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Weder schwarz noch weiß

Coloureds in Südafrika, als „Non-People“ lange marginalisiert, werden zur zentralen politischen Kraft  ■ Von Adewale Maya-Pearce

Man stelle sich folgendes vor: Wir befinden uns in den düstersten Zeiten der Apartheid. Nelson Mandela sitzt im Gefängnis, der African National Congress (ANC) ist eine verbotene Organisation kommunistischer Terroristen, und die National Party (NP), an der Macht seit 1948, soll noch tausend Jahre regieren. Eines schönen Sonntags irgendwo im bäuerlichen Hinterland der Western-Cape- Provinz geht ein sauber gekleideter Coloured mit der Bibel unterm Arm die Straße entlang. Sein Weg führt ihn am Eingangstor einer Farm vorbei, und dort sitzt ein Farmer, ein Weißer, auf seiner Terrasse und läßt den Blick über seine weitläufigen Weinberge streifen. Der Weiße entdeckt den Coloured und ruft ihn zu sich. Das folgende Gespräch findet auf Afrikaans statt.

„Was ist das für ein Buch, das du da hast?“ „Eine Bibel, Baas.“ „Kannst du lesen?“ „Ja, Baas.“ Der Farmer nimmt die Heilige Schrift und schlägt sie irgendwo auf. „Was heißt das hier?“ „Das Evangelium des Heiligen Johannes, Baas.“ „Sag mir, war dieser Johannes ein weißer Mann oder was?“ „Ein Weißer, Baas.“ „Wie mußt du ihn dann nennen?“ „Baas Johannes, Baas.“ „Richtig. Jetzt weiß ich, daß du wirklich lesen kannst.“

Der Cousin eines Freundes, ein Coloured, erzählte mir diese Geschichte in Kapstadt, und er lachte bei der Erinnerung daran. Die Geschichte war gut, nicht zuletzt, weil sie die schiere Banalität eines Systems aufzeigte, dem angeblich eine Idee zugrunde gelegen hatte – „etwas, vor dem man niederknien und Opfer bringen kann“ –, das aber in Wirklichkeit nur auf plattester Anmaßung beruhte. Das zeigte sich dann auch am Tempo, mit dem es schließlich zusammenbrach, und daran, wie einfach es nach seinem Zusammenbruch geworden war, es der Lächerlichkeit preiszugeben, was selbst (oder ganz besonders) seinen Opfern erstaunlich leicht zu fallen schien.

Der Cousin meines Freundes wußte natürlich sehr genau, daß auch platteste Anmaßung Leben zerstören kann und zerstört, weil sie die wirkliche Beziehung der Menschen untereinander verzerrt. Er selbst war schließlich im Sechsten Distrikt aufgewachsen, der 1966 plötzlich zu einem weißen Distrikt erklärt und vollständig dem Erdboden gleichgemacht worden war. Er ging mit mir hin, um mir zu zeigen, was für eine Barbarei das gewesen ist. Nicht weit vom Stadtzentrum wies er auf ein riesiges unbebautes Areal am Fuße des Tafelberges, diesem von Wolken gekrönten Wahrzeichen der Stadt.

Als ich die landschaftliche Schönheit sah, begriff ich, warum die Architekten der Apartheid das hier für sich selbst wollten. Doch konnten sie die Früchte ihrer Drecksarbeit dann doch nicht ernten, weil sich – und das soll hier nicht verschwiegen werden – die liberale, englischsprachige weiße Mehrheit Kapstadts weigerte, sich an diesem klaren Diebstahl von Grund und Boden zu beteiligen. Den sechzigtausend Männern, Frauen und Kindern, deren Zuhause der Sechste Bezirk gewesen war, half das nichts; sie waren schon einige Kilometer weiter in zu diesem Zweck eilends errichteten Townships verfrachtet worden.

„Sieh genau hin“, sagte er, als wir in eine dieser Townships kamen. „Hier kannst du sehen, was ihnen Menschen wert sind.“ Wir fuhren wohl eine halbe Stunde lang, ohne anzuhalten. Jede Straße, in die wir einbogen, war ein Duplikat der vorangegangenen: Massen identischer Holzhäuser wie Schachteln auf beiden Seiten der engen Straßen, Kilometer um Kilometer, und nichts in Sicht, was die Monotonie aufhob, nichts Schönes, soweit das Auge reichte. Aber es war nicht alleine diese unvermeidliche Häßlichkeit: Hier hatte vielmehr die Wahrnehmung menschlicher Wesen als „andere“ eine Struktur erzeugt, die, wie Hazlitt es nannte, durch eine „pure Nützlichkeitserwägung“ diktiert ist, die allem den Stempel der geistigen Leere ihrer Schöpfer aufdrückt.

„Und dann wundern sie sich“, sagte er, und man spürte seine Wut, zwei Jahrzehnte nach dem Ereignis, noch immer, „daß so viele hier kriminell geworden sind.“ „Also du wirst dann auch für den ANC stimmen“, fragte ich, als wir in meinem Hotelzimmer zurückwaren. Er lachte. „Ich werde die Nationalen wählen.“ Einen Moment schwieg er. Dann sagte er: „Die Vergangenheit ist vorbei, wir müssen jetzt an die Zukunft denken. Und ich traue den Schwarzen nicht. Die Macht wird ihnen zu Kopf steigen, genau wie überall auf diesem Kontinent. Sieh dir Ruanda an. Hunderttausend Tote in zwei Wochen!“ Wieder schwieg er. „Nee, mein Freund“, sagte er, „es ist klar, daß der ANC gewinnen wird. Das bedeutet, daß wir eine glaubwürdige Opposition brauchen. Und das kann nur die National Party sein. Nebenbei gesagt: der Boer hat zumindest bewiesen, daß er eine moderne Ökonomie beherrscht. Warum sind sonst wohl so viele Afrikaner aus den Nachbarländern auf der Suche nach Arbeit zu uns gekommen?“

Rassismusvorwurf mangels Argumenten

Selbst wenn ich gewollt hätte, war sein Argument – auch ohne die gegenwärtigen dramatischen Nachrichten aus Ruanda – nicht so leicht von der Hand zu weisen. Dreißig Jahre Korruption und Inkompetenz hatten auf diesem Kontinent ein Land nach dem anderen in ein Katastrophengebiet verwandelt. Schlimmer noch: die Heuchelei, die für dieses Chaos verantwortlich war, feierte weiterhin überall fröhliche Urstände. Man denke beispielsweise an die Militärregierung Nigerias, die eine Beobachtergruppe zur Überwachung der Geburt der Demokratie im ehemaligen Pariastaat schickte – ein knappes Jahr nur nachdem ein paar ihrer Generäle dem demokratischen Prozeß im eigenen Land den Garaus gemacht hatten. Dieselben Generäle brauchten nicht einmal ein Apartheidgesetz wie den Group- Area-Act, um zur gleichen Zeit einen Slum niederzuwalzen, dessen Grund und Boden sie sich selbst unter den Nagel reißen wollten, womit sie eine Variante von Apartheid praktizierten, die sie ansonsten mit großem Getöse und ausgestreckten Fingern anderen unterstellten.

Der Cousin meines Freundes brauchte sich um meine Reaktion keine Sorgen zu machen. Ich wußte genau, wovon er sprach. „Denken andere Coloureds ähnlich wie du?“ fragte ich ihn. „Klar. Die Nationalen gewinnen im Western-Cape in jedem Fall.“ Er lachte: „Und die Leute werden dann sagen, daß die Coloureds eben Rassisten sind. Das haben sie schon immer über uns gesagt, und manchmal stimmt das auch. Vor allem für die Älteren. Aber die Mehrheit ist nicht rassistisch. Nur...“ Er hob die Schultern. „Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich weiß nur, daß wir Coloureds uns schützen müssen.“

Keiner wird so tun wollen, als gebe es unter den Coloureds Südafrikas keine Rassisten oder als ob der Sieg der National Party im Western-Cape nicht zumindest teilweise mit den Vorurteilen der Mehrheit der Coloureds (vier von sieben) zu tun hatte, für die eine schwarze, vom ANC geführte Regierung kein Thema war. Ein halbes Jahrhundert Apartheid hat die Beleidigten mit einer Sprache ausgestattet, mit der sie versuchten, sich ein Stück Selbstwert zu verschaffen, wie fehlgeleitet oder kritisierenswert das auch war. Aber ein tiefergehendes Verständnis dessen, was sich in diesen Leuten abspielte, von denen man eigentlich eine klare Stellungnahme gegen die alten Vertreter des Apartheid-Regimes erwartet hätte, muß über eine oberflächliche Analyse dieser Art hinausgehen.

Statt dessen hatten einige politische Kommentatoren nichts Besseres zu tun, als ihren fehlgeleiteten Coloured Brüdern mit dem Finger zu drohen und zu glauben, es sei damit getan, die ärmsten Townships, die man gerade noch so ohne Gefahr für Leib und Leben betreten konnte, zu besuchen und die Schuldigen der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben. Ein schwarzer Journalist des Weekly Mail & Guardian entdeckte, was er gesucht hatte, in Cape Flats, einem notorischen Township am Rande Kapstadts, das selbst Coloureds aus gutem Grund eher mieden.

„Hier wird mit dem Wort ,Kaffir‘ unbedenklicher herumgeworfen als im ultrakonservativen Ventersdorp“, berichtet der Journalist in seinem Artikel („Im Cape Flats der Coloureds ist Mandela einfach nur ein ,Kaffir‘“). Er führt als Beweis zwei Frauen an, die von nun an die Sünden aller verkörpern müssen: „Eine Bewohnerin sagte, sie würde auf gar keinen Fall für Mandela stimmen, weil das nächste, was die Schwarzen dann wollten, wären ihre Töchter. Das aber käme überhaupt nicht in Frage, denn ,julle mense het te groot dinges‘ (Ihr habt einfach zu große Dinger). Auch daß sie mit mir nicht schlafen würde, sei allein eine Frage der Größe, erzählte sie mir unaufgefordert.“

Und „Annetta, eine Bewohnerin, die erzählte, daß sie aus dem Sechsten Distrikt ausgewiesen worden war, gab zu, daß sie Hendrik Verwoerd und BJ Vorster nicht mochte. ,Das waren schreckliche Menschen.‘ Aber de Klerk sei der Mann, dem man trauen könne und der die Coloureds vor den Schwarzen beschützen würde. ,Wissen Sie‘, sagte sie, und Speichel spritzte ihr dabei durch eine Lücke in den Vorderzähnen, ,wir können die Schwarzen nicht wählen. Schwarze können nicht regieren. Sieh dir an, was in Bophuthatswana passiert ist. Und den Farbigen kann man auch nicht trauen, ,hulle is almal skelms‘ (sie sind alle Verbrecher).“

Sinnlos, mit jemandem zu diskutieren, der seine Geringschätzung so deutlich zur Schau stellt, zumal in derartigen (und höchstwahrscheinlich sogar erfundenen) Seitenhieben gegen die moralische Zweifelhaftigkeit der einen und den physischen Defekt der anderen Frau. Gleichzeitig jedoch spiegelt der Artikel das zentrale Dilemma der Coloureds, nämlich ihren ambivalenten Status in einer Gesellschaft, die sich vollständig dem Mythos der Hautfarbe verschrieben hat, unbegriffen wider.

Hautfarbe als para- lysierender Alptraum

Denn in gewissem Sinne hat die Ehefrau des letzten weißen Präsidenten, Marike Klerk, natürlich vollkommen recht, wenn sie die Farbigen in einem Interview als „Non-People“ und „Übriggebliebene“ bezeichnet. Die Coloureds, sieht man sie allein in bezug auf die Ideologie der Apartheid, können in der Tat nur negativ definiert werden: Sie sind weder Schwarze noch Weiße. Gleichzeitig stehen sie absolut im Zentrum dessen, worum es geht. Denn die Coloured sind zugleich Opfer und Symbol einer unsäglichen Lüge und verdammt, in ewiger Paralyse zu leben, auf daß sich der Mythos der Hautfarbe ganz als der Alptraum realisieren kann, der er ist. Wobei das Problematische daran ist, daß die, die ihn in diese Unbeweglichkeit stoßen, (und ihn unter allen Umständen dort auch halten müssen, und zwar aus Gründen, die sie selbst nur ungerne aus der Nähe betrachten), mit dem Wissen über ihre eigene Tat zu leben haben. Das gilt für Schwarze wie für Weiße gleichermaßen. Aber die Tatsache, daß erstere sich selbst als Opfer (und deshalb Unschuldige) zum Beispiel des Group-Area- Acts behaupten können, ist die unausgesprochene Rechtfertigung für das unangenehme Schauspiel eines schwarzen Journalisten, der seine gegen die Falschen gerichtete Wut an denen ausläßt, gegen die er keine wirklichen Argumente hat.

Die Coloureds sind, kurzum, einen allzuleichte Zielscheibe der Kritik – weshalb es unserem Schlaumeier auch nicht einfiel, einmal die ärmeren Weißen zu fragen, warum sie für die extreme Konservative Partei stimmen. Da hätte er ähnliche Sätze gehört aus einer ähnlichen Mischung von Ignoranz, Angst und Selbsthaß („Wenigstens bin ich nicht schwarz“), die nun einmal eine der tragischen Folgen des Apartheid-Experiments ist.

The Weekly Mail & Guardian hielt es für nötig, diesen ehrenrührigen Artikel und in der darauffolgenden Woche sogar eine Antwort darauf zu drucken: „(Die) Charakterisierung unserer Leute im Western-Cape als ,unflätige, betrunkene Masse von NP-Anhängern‘ muß als üble Beleidigung der Nation aller Farbigen empört zurückgewiesen werden“. Dies bewies alles in allem nur einmal mehr, was die Coloureds über ihren ambivalenten Status in einer Gesellschaft ohnehin schon wußten, in der jeder Bemerkungen über ihre Haltungen und Überzeugungen machen darf, die überall sonst als Beleidigungen verstanden würden. So wurde die Ambivalenz ihrer Position nur einmal mehr reflektiert und definiert. Nebenbei kam auch der – unter den gegebenen Umständen unvermeidliche – Verdacht auf, daß die Weißen, die ja auch gerade Zeugen des ruandischen Blutbades waren, die Aussicht einer triumphalen schwarzen Regierung ebensowenig begeisterte wie die Coloureds. Der Unterschied war nur, daß die Coloureds, anders als die Weißen (oder auch die Schwarzen in diesem Fall), eine platte Anmaßung als das kannten, was sie war, und deshalb auch den Preis, den ein Post-Apartheidsystem verlangen würde – denn für sie hing ihr Überleben davon ab.

„Wir müssen jetzt an die Zukunft denken“, sagte der Cousin meines Freundes zu mir, und es erschien mir bedeutsam (wenn auch kaum überraschend), daß es ein Coloured war, der über die Euphorie der in Aussicht stehenden Wahlen hinausblickte. Mehr als ein halbes Jahrhundert einer verkrüppelnden Geschichte wird nicht einfach überwunden, wenn ein weißes durch ein schwarzes Gesicht ersetzt wird. Das hat der Rest dieses Kontinents bereits lernen müssen – obwohl es ihm mit solch einer skeptischen Minderheit in seiner Mitte vielleicht besser ergangen wäre. Genau deshalb könnte es passieren, daß die Menschen Südafrikas – schwarz, weiß und dazwischen – noch einmal dafür dankbar sein werden, wie die Coloureds im Western-Cape bei diesen Wahlen ihre Stimme abgaben.

Wenn dem so wäre, läge gewiß auch eine letzte Ironie in der Tatsache, daß diese Rolle einer Gruppe zugeschoben wurde, deren Mitglieder ganz nebenbei als „Übriggebliebene“ und „Non-People“ bezeichnet werden können, deren Marginalität sich am Ende jedoch als gar nicht so marginal entpuppt – die sogar, wie es aussieht, absolut zentral sein werden.

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