Risse im AKW Würgassen

Techniker entdecken Schäden am Kernmantel / Wieder ist austenitischer Stahl betroffen / Landtags-Grüne in Düsseldorf fordern Stillegung  ■ Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) – Stahlschäden in deutschen Siedewasserreaktoren haben eine neue Qualität erreicht: Bei einer Routinerevision im nordrhein-westfälischen Atomkraftwerk Würgassen entdeckten Techniker Anfang September erneut Risse in Schweißnähten „austenitischer“ Stähle. Diesesmal sind jedoch nicht nachgeordnete Rohr- oder Sicherheitssysteme betroffen, sondern der sogenannte Kernmantel, eine zentrale, tragende Komponente im Innern des Reaktordruckbehälters.

Als „alarmierenden Fund“ bezeichnete gestern Katrin Grüber, Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen im Düsseldorfer Landtag, die neuen Erkenntnisse. Die Grünen verlangen die endgültige Stillegung des „Schrottreaktors“.

An dem zylindrischen Kernmantel sind die wichtigsten Einbauten des Reaktordruckbehälters befestigt. Er trägt unter anderem die Führungsgitter für die Abschaltstäbe des Reaktors und die Leitungen für die Kernnotkühlung. Lothar Hahn, der Reaktorexperte des Öko-Instituts in Darmstadt, verlangt ein Sofortprogramm zur Überprüfung aller sieben deutschen Siedewasserreaktoren auf entsprechende Schäden. Die Reaktorbetreiber bekämen das „Austenitproblem offensichtlich nicht in den Griff“. Auch in Reaktoren des US-amerikanischen Herstellers „General Electric“ seien in der Vergangenheit ähnliche Probleme aufgetreten.

Auf Nachfrage bestätigte gestern ein Sprecher des nordrhein- westfälischen Wirtschaftsministers Günther Einert (SPD) die Rißbefunde in Würgassen. Einert führt die Aufsicht über den über zwanzig Jahre alten 640-Megawatt-Meiler. Bei einer ersten Untersuchung seien „mit Hilfe einer Videokamera an zwei von sieben geprüften Schweißnähten Risse festgestellt worden“, erklärte der Sprecher. Weder über die Ausdehnung der Risse noch über ihre Zahl ließen sich zur Zeit verläßliche Aussagen machen. Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) sei unterrichtet worden. Ebenfalls gestern berieten im Düsseldorfer Wirtschaftsministerium Experten über das weitere Vorgehen.

In einer knappen Mitteilung hatte der Betreiber PreussenElektra bereits in der vergangenen Woche über Rißbefunde „in einigen Bereichen“ des Kernmantels berichtet und das „Vorkommnis“ flugs unterhalb der siebenstufigen internationalen Sicherheitsskala („Stufe 0“) einsortiert. Im Sicherheitsbericht für das Atomkraftwerk Würgassen aus dem Jahr 1970 ist nachzulesen, der Kernmantel gewährleiste wegen „niedriger mechanischer Beanspruchungen sowie der Verwendung von korrosionsbeständigen stabilisierten austenitischen Werkstoffen mit günstigem Verhalten unter Strahlenbelastung eine sichere Funktionsfähigkeit über die gesamte Lebensdauer“.

Vollmundige Erklärungen wie diese sind rar geworden, seit Anfang der neunziger Jahre erstmals, und dann immer wieder, Dutzende von Rissen an Schweißnähten austenitischer Stähle in verschiedenen Komponenten entdeckt wurden. Betroffen waren neben Würgassen die Siedewasserreaktoren in Brunsbüttel, Ohu und Philippsburg. Der hochgelobte rostfreie Edelstahl wird offenbar in der Umgebung von Schweißnähten nach einer gewissen Belastungsdauer systematisch rissig. Werkstoffwissenschaftler nennen den Mechanismus „interkristalline Spannungsrißkorrosion“.

Daß das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium ausgerechnet die Stuttgarter Materialprüfungsanstalt mit den weiteren Untersuchungen beauftragt, trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung bei. Deren Chef, Professor Karl Kußmaul, hatte im vergangenen Jahr als Mitglied der Bonner Reaktorsicherheitskommission monatelang bestritten, daß die Risse in austenitischen Stählen während des Reaktorbetriebs gewachsen sein könnten. Sie seien von Anfang an dagewesen. Am Ende stellte sich heraus, daß Kußmaul irrte. Wenigstens ein Teil der Schäden war während des Betriebs entstanden.