: Mischung aus Erntedankfest und Leistungsschau
■ Unter Federführung des VW-Konzerns verlief Berlins Parade ohne Störungen
Unser Deutschland, unsere Menschen, unsere regionalen Besonderheiten, unser kulturelles Erbe und, natürlich: unser Multikulti, der Jubeltag Deutsche Einheit ist das richtige Datum, um all dieses Schöne und Gute vorzuführen. Das dachten sich die Mitglieder der patriotischen Initiative „Wir für Deutschland“ und veranstalteten deshalb rund um den 3. Oktober in Berlin ein Fest, das sich ganz bescheiden „Deutschlands Fest“ nannte. Als Höhepunkt versprachen die Veranstalter etwas Einmaliges, nämlich eine Steubenparade nach New Yorker Muster, einen Festumzug aller 16 Bundesländer mit Trachten, Musik und regional Spezifischem. Nicht mehr die alte, in Verruf geratene Parole „Das Volk sind wir“ ist das Gebot der Zeit, sondern politisch-korrekt „Das Land sind wir alle“. Schwaben, Bayern, Sachsen und Friesen – die Ostpreußen und Schlesier müssen vorerst draußen bleiben.
Heraus kam eine Mischung aus Erntedankfest und Production Placement. Goutiert von etwa 30.000 Berlinern, weit weniger, als die Veranstalter angekündigt hatten, streichelten zum Beispiel niedliche Kinder aus Niedersachsen niedliche Heidschnucken auf einem mit Erikakraut liebevoll geschmückten Wagen. Aber hinter der heilen Welt aus der guten alten Zeit rollte ein VW nach dem anderen. Die VW-Parade wollte nicht enden, der tausendste Käfer, der millionste Käfer, der Golf, der Passat, das Öko-Auto, der 3-Liter- Diesel, das Cabrio. Und neben dem Zug, der ein wenig niedersächsisches Brauchtum und viel niedersächsischen Leistungswillen präsentierte, hüpften in den Landesfarben eingekleidete Cheer Girls und schwenkten VW-Fähnchen. Diese Winkelemente wurden auch großzügig an die Berliner verteilt, die dann später mit VW- Emblemen den vielen Daimler aus Baden-Württemberg, den alten und neuen Opel aus Hessen, den Borgward aus Bremen und den Trabant aus Sachsen zujubelten. Aber die Trabant sind ja inzwischen unter der Sparte Nostalgie abzubuchen.
Auch das vorbeigezogene Holzspielzeug aus Annaberg gehört in die Sparte erloschenes Brauchtum. Denn von den vielen zehntausend Menschen, die einmal in dieser traditionellen Weihnachtsmänner- und Nußknackerindustrie beschäftigt waren, sind höchstens noch etwa 600 beschäftigt. Die Abgewickelten und Umgeschulten stehen dafür heute beim größten Arbeitsamt Deutschlands, eben in Annaberg, Schlange.
Aber davon war auf dieser Steubenparade nichts zu sehen. Das einzige Bundesland, das auch diese Seite deutscher Realität auf der Parade vorführen wollte, war „Arbeitslosien“, genau seit dem 3. Oktober Deutschlands 17. Bundesland. Aber weil die Veranstaltungsleitung unter der Führung des Volkswagen-Konzerns ihnen die Anerkennung verweigerte, bauten Polizisten und Ordner eine neue Mauer auf. Mit ihren Schildern verwehrten sie den 20 Botschaftern des neuen Sechs-Millionen-Landes den Zugang zu den Festlichkeiten. Anita Kugler, Berlin
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