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Die reinste Nötigung

Das überzeugendste Plädoyer für die Einführung von Busspuren: „Speed“ von Jan de Bont setzt rasende Maßstäbe für den Actionfilm  ■ Von Karl Wegmann

Wenn Alfred Hitchcock gefragt wurde, was denn genau der Unterschied sei zwischen Überraschung und Suspense, erzählte er immer die Geschichte von den beiden Männern und der Bombe. „Zwei Männer sitzen an einem Tisch und unterhalten sich, nichts Besonderes passiert, und plötzlich – bumm – eine Explosion. Das Publikum ist überrascht. Schauen wir uns jetzt Suspense an. Die Bombe ist unter dem Tisch, und das Publikum weiß, daß sie in fünf Minuten explodieren wird. Die unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird sie explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Suspense.“ Der Trick mit der Bombe funktioniert immer noch. Allerdings muß er heutzutage etwas aufgepeppt werden. Denn erstens haben die älteren Kinogänger die Szene schon x- mal in verschiedensten Variationen gesehen, und zweitens würden die jüngeren wahrscheinlich rufen: „Hey, Mann, laß das Ding endlich hochgehen, wir wollen wissen, wie die beiden Idioten danach aussehen.“ Die Bombe braucht also eine kleine Hilfestellung, die Suspense muß fett gemacht werden.

Jan de Bont hat mit seinem Regiedebüt „Speed“ genau das richtige Vehikel gefunden, um den Zuschauer mit Hitchcocks Bombe wieder zu fesseln. Das Zauberwort heißt Tempo, der Filmtitel ist Programm: Der irre Bombenleger Howard Payne (Dennis Hopper — wer sonst!?) möchte die Stadtverwaltung von Los Angeles um drei Millionen Dollar erleichtern. Zu diesem Zweck hat er in dem Nahverkehrsbus 2525 einen Sprengkörper installiert. Die Bombe wird scharf, sobald der Bus einmal schneller als 50 Meilen pro Stunde fährt, und sie geht hoch, wenn die Geschwindigkeit dann wieder unter 50 sinkt. Um die ganze Sache etwas interessanter zu gestalten, hat Payne vorher eines seiner Haßobjekte, seinen Lieblingscop Jack Traven (Keanu Reeves), informiert, der auch prompt mitfährt. Daß der Bus über 50 fährt, kann er nicht mehr verhindern. So ist das öffentliche Verkehrsmittel, vollgestopft mit ganz normalen Leuten und ein paar Kilo Sprengstoff an der Vorderradaufhängung, gezwungen, durch eine von Staus verstopfte Stadt zu brettern und wird damit zum überzeugendsten Plädoyer für die Einrichtung von Busspuren.

Das neue an diesem Actionfilm ist die rasende Geschwindigkeit, in der er erzählt wird. De Bont hält sich nicht lange mit der Zeichnung der Protagonisten auf. Dennis Hopper darf zu Anfang einem Wachmann einen Schraubenzieher in den Kopf rammen, damit steht fest, daß er völlig durchgedreht ist. Keanu Reeves rettet unter Einsatz seines Lebens eine Handvoll Menschen aus einem Fahrstuhl, das muß reichen für die Einführung eines kompetenten Helden.

Keine Biographien, nur Tempo

Keine Biographien, volle Konzentration auf Aktion und Tempo. De Bont peitscht seine Zuschauer durch die Geschichte. So schnell wie er war vorher keiner. Dabei hat es vor ihm durchaus schon Regisseure gegeben, für die Geschwindigkeit keine Hexerei war.

Der Australier George Miller („Meine Filme sind visueller Rock 'n' Roll“) zum Beispiel, hatte sich schon 1981 auf die veränderten Sehgewohnheiten des Publikums, das gerade mit Videoclips bombardiert wurde, eingestellt. Seine schockartigen Schnittfolgen, effektvoll und unerwartet, in der Verfolgungsjagd in „Mad Max II“, preßten den Zuschauer in den Kinosessel. Neun Monate Montage brauchte er für den Film, heraus kam die totale Anmache. Einmal zur Popcorntüte geschielt, schon eine Szene verpaßt, es war die reinste Nötigung. Aber Miller setzte das mörderische Tempo erst in der zweiten Hälfte des Films ein. Volle zwei Stunden auf dieser Achterbahn mochte er seinem Publikum dann doch nicht zumuten.

Auch Steven Spielberg nahm 1984 noch Rücksicht: „Als ich George Lucas eine Version von einer Stunde und fünfundfünfzig Minuten von ,Indiana Jones und der Tempel des Todes‘ gezeigt hatte, schauten wir uns an und sprachen sofort den gleichen Gedanken aus: zu schnell. Wir mußten die Handlung verlangsamen. Ich machte ein paar Matte-Einstellungen, die das Tempo drosselten. Wir machten den Film etwas langsamer, ohne die Gesamtlaufzeit zu verlängern. Wir bauten gerade so viele Pausen zum Luftholen ein, daß die Zuschauer genügend Sauerstoff bekamen, um zwei Stunden durchzuhalten.“

Diese Hemmschwelle hat Jan de Bont jetzt niedergerissen. Keine Gnade mehr! Als man ihm das Drehbuch von Graham Yost zu „Speed“ vorlegte, gefiel es ihm zwar, war ihm aber „etwas zu langsam. Ich habe einige Szenen hinzugefügt. Ich wollte das Tempo zwei Stunden lang auf höchstmöglichem Niveau halten, dem Zuschauer nicht eine einzige Atempause gönnen.“ Sein Rezept dafür war denkbar einfach: „Man muß sich auf die suggestive Kraft der Bilder zurückbesinnen, wie dies Alfred Hitchcock meisterlich verstanden hat.“ Außerdem kennt sich Ex-Kameramann de Bont ausgezeichnet im Actiongenre aus, und: Er nimmt es ernst.

Erstmals auffällig wurde der Holländer, als er 1974 für Paul Verhoeven „Türkische Früchte“ fotografierte, danach stand er für seinen Landsmann noch für „Der vierte Mann“ und „Basic Instinct“ hinter der Kamera. Weitere Arbeiten von de Bont sind unter anderem: „Jagd auf Roter Oktober“, „Black Rain“, „Lethal Weapon 3“ und der Actionfilm der 80er: „Stirb langsam“. Diese Erfahrungen zahlten sich jetzt aus. „Speed“ ist Actionkino von spielerischer Brillanz, pure Unterhaltung, garantiert ohne tiefere Bedeutung. Der reinste präpotent angeberische Eskapismus, den wir eben von Zeit zu Zeit brauchen.

Führerlos dahin- rasende U-Bahn

Die Story des Hochgeschwindigkeitsthrillers enthält den Stoff für mindestens drei Actionfilme: die 23minütige Eröffnungssequenz, die an „Stirb langsam“ erinnert (von de Bont selbst geschrieben) und die Befreiung von Menschen in einem gekidnappten Fahrstuhl zeigt; die 67minütige Haupthandlung mit dem Bus, der nicht anhalten darf; und das 25minütige Finale in einer führerlos dahinrasenden U-Bahn. Alle Verkehrsmittel sind ständig in Bewegung, selbst die Liebe zwischen dem Held und der von Sandra Bullock gespielten Busfahrerin wider Willen entwickelt sich im Geschwindigkeitsrausch. Und das Ende von Bus 2525 (ebenfalls vom Regisseur selbst geschrieben) läßt die ganzen Flugzeugkatastrophenfilme der 70er wie Episoden von „Der 7. Sinn“ aussehen. De Bont und sein Kameramann Andrzej Bartkowiak („Zeit der Zärtlichkeit“) setzten für diese Bewegungsstudie in Blech bis zu zwölf Kameras gleichzeitig ein und „verbrauchten“ zehn Busse.

„Speed is just a question of money – how fast can you go“, hieß es noch in „Mad Max“. Für Jan de Bont gilt der Spruch nicht mehr. Er kam mit einem für Hollywood- Verhältnisse lächerlich geringen Budget von 30 Millionen Dollar aus (zum Vergleich: der Schwarzenegger-Reißer „True Lies“ kostete 100 Millionen). „Ich wollte beweisen, daß die Höhe des Budgets nicht allein für die Qualität des Films ausschlaggebend ist“, prahlt de Bont. „Man muß den Zuschauer glauben machen, daß er mehr sieht als das, was tatsächlich auf der Leinwand passiert.“ „Speed“ wurde der Sommerhit in der amerikanischen Kinosaison und spielte allein in den USA rund 120 Millionen Dollar ein.

Daß man einen Actionfilm noch spektakulärer gestalten kann als diese atmungsbehindernde Tour de force auf Rädern, glaubt, ohne Bescheidenheit, Jan de Bont nicht. Für ein Sequel steht er deshalb nicht zur Verfügung, er wechselt das Genre und dreht als nächstes „Godzilla“.

Aber natürlich wird es trotzdem einen zweiten Teil von „Speed“ geben, wenn der frischgebackene Actionstar und neue Publikumsliebling Keanu Reeves die sieben Millionen Dollar Gage bekommt, die er fordert. Reeves muß allerdings aufpassen. Denn wie Alfred Hitchcock schon sagte, „die Furcht vor der Bombe ist mächtiger als die Gefühle von Sympathie oder Antipathie den Personen gegenüber.“ Die Sache mit der Bombe funktioniert also auch ohne Star, und imaginäre Sprengsätze sind billig.

Jan de Bont: „Speed“ mit Keanu Reeves, Dennis Hopper, Sandra Bullock u.a., USA 1994, 115 Min.

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