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Träume im Frittenduft

Gesichter der Großstadt: Seit 17 Jahren bedient „Manne“ seine „Ersatzfamilie“ am Imbißstand / Keiner soll die gleichen Fehler wie er begehen  ■ Von Barbara Bollwahn

Ein Besoffener bestellt bei „Manne“ am Kiosk eine doppelte Portion Pommes mit Majo. Doch bevor er sich die in den Mund schieben kann, fällt sein Kopf zuerst vorneüber direkt in den Pappteller hinein, dann klappt der Mann hinten auf die Straße. Für „Manne“ Routine: Anruf bei der Feuerwehr und ab in die Klinik. Solche Geschichten verbucht er unter der Rubrik „Witziges“. Gar nicht zum Lachen sind dagegen Geschichten, wie sie „Manne“ schon viel zu oft erlebt hat: die erfolgreiche Suche nach zwei Vergewaltigern, der Mann, der unbeachtet von Passanten und außerhalb von „Mannes“ Blickwinkel an seinem eigenen Erbrochenen erstickt ist, oder die Frau, die bei einem Verkehrsunfall mit ihrem Rad mitten in seinen Laden gedonnert ist.

Seit 17 Jahren steht „Manne“ nun schon am Kiosk an der U- Bahn Gneisenaustraße. Als er anfing, war er, wie nicht wenige seiner Kunden, selbst schwerer Alkoholiker. Das meiste Glück scheint er am Tag des Mauerbaus gehabt zu haben, als seine Mutter in letzter Sekunde in den Westen flüchtete. Mit sechzehn Jahren hatte er die erste schwere Alkoholvergiftung, zehn Jahre später hörte er mit dem Saufen auf. Eine portugiesische Familie, die er während seiner Langzeittherapie kennenlernte, gab ihm Kraft. Ihnen gab er sein „Ehrenwort“, nicht rückfällig zu werden. „Das war mehr wert als alles andere“, sagt er dreizehn Jahre später.

Wer zu „Manne's“ Kiosk kommt, kommt nicht, weil seine Buletten besser sind als anderswo. Auch der Schnaps ist der gleiche. Wer bei ihm aufläuft, tut das aus anderen Gründen. Der junge Türke Mufti und sein Freund Cube, ein arabischer Palästinenser, sind nur zwei von vielen türkischen, arabischen und jugoslawischen Jugendlichen, die seit Jahren ihre Geschichten bei „Manne“ am Tresen abladen. Für sie ist er der „Superkerl“, „der einzig verschwiegene Freund“ oder „ein zweiter Vater“. Der Trainer des Fußballclubs „Eintracht Südring“, der nur wenige Minuten entfernt seinen Sitz hat, kann an „Manne's Austauschbörse“ jederzeit erfahren, wo sich seine Spieler gerade rumtreiben. „Du bist viel zu gut für die Gegend“, sagt er und schiebt seinen Bestellzettel mit dem „Futter für die Familie“ rüber.

Sie alle kennen „Manne's“ Geschichte vom Suff, dem Glücksspiel, dem seelischen Kummer, den Schlägen des Stiefvaters auf den Kopf, die an seiner schlechten Konzentrationsfähigkeit schuld seien. Deswegen könne der gelernte Wurstverkäufer auch nicht lesen und schreiben. „Manne“ macht keinem etwas vor. Wenn es jemand bei ihm versucht, kann er auch schon mal fuchsteufelswild werden, obwohl er im Herzen „butterweich“ sei. „Mir ist wichtig, daß die Jugendlichen von meinen Erfahrungen lernen“, sagt er mit bitterem Ernst. Auch wenn er manchmal noch „kleine Macken im Kopf“ habe, habe er gelernt, damit umzugehen. Warum sollen dann die anderen nicht auch ihr Leben in den Griff kriegen können. Eine eigene Familie hat „Manne“ nicht. „In der heutigen Zeit kann man doch kein Kanonenfutter in die Welt setzen“, hat er irgendwann beschlossen und sich seine „Ersatzfamilie“ am Imbiß, der „sein Leben“ ist, großgezogen. Fast jeden Tag steht er von mittags bis Mitternacht an der Gneisenau-/Ecke Zossener Straße. Oft genug sammeln sich Typen an, die genauso an der Flasche hängen wie er selbst vor Jahren. Dann schiebt er wortkarg die flüssige Nahrung über den Tresen. Vorträge hält er ihnen nicht. Wer total zu ist, wird nach Hause geschickt.

Wie hält das jemand, der selbst mit genug eigenen Schwächen zu kämpfen hat, aus? Indem er erst den Kiosk abschließt und dann den Kopf „zumacht“. Im Laufe der Zeit habe er sich eine „gewisse Kälte“ und ein Gehirn zugelegt, das absichtlich vergißt. Und dann ist da noch die Hoffnung, vielleicht eines Tages aus Deutschland wegzugehen. Auch wenn „Manne“ weiß, daß er „im Notfall“ auf Hilfe von allen Seiten rechnen kann, zieht er es vor, sein Leben allein auf die Reihe zu kriegen. „Wie tief man auch unten ist, man soll sich nicht auf andere verlassen.“

Wenn „Manne“ so spricht, denkt er daran, wie ihm nach der Entziehungskur offene Schnapsflaschen in den Imbiß gestellt wurden und ihm Unbekannte mehr als einmal die Polizei auf den Hals geschickt haben, um den vermeintlichen „Drogenumschlagplatz“ unter die Lupe zu nehmen. Daß er sich aus reiner Menschenliebe um oftmals rivalisierende Jugendcliquen kümmert, will nicht jeder glauben. „Lieber tausend Feinde als einen falschen Freund“, zitiert Cube seinen Freund. Wie aus der Pistole geschossen, erinnert sich ein junger Türke an den Tag, als ihn „Manne“ von den Drogen wegbrachte: „Es war genau heute vor zwei Jahren, zehn Monaten und neunzehn Tagen.“ Das sind die Momente, wo „Manne“ ganz genau weiß, warum er diesen Job macht.

Seinen größten Wunsch, ein Kinderdorf für Waisen aufzubauen, hat er längst begraben. Mit seinem Kiosk hat er einen Teil davon verwirklicht. Jeder Sozialarbeiter müßte an seinem eigenen Tun zweifeln, stünde er nur zwei Stunden bei „Manne“. Bevor sich „Manne“ in Gedanken an die Erfüllung seines neuen Traums macht und sich in den Nahen Osten absetzt, muß er noch „zwei Aufgaben“ erfüllen und Hamudi und Cube „großziehen“. Im Frittendunst träumt „Manne“ davon, daß die Menschen wieder lernen, sich gegenseitig zu helfen. „Vergiß es“, sagt Stammkunde Andreas. „Du bist ein Träumer.“ „Aber sonst gibt es keinen Anfang“, protestiert „Manne“. „Laß mir meine Träume. Man muß durch die Hölle gehen und dabei träumen.“ Wie fast immer hat „Manne“ das letzte Wort.

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