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Stretching bis zur Rehaklinik

■ Verletzungen aufgrund falscher Gymnastik-Übungen sind eines der Grundübel unserer Zeit / Dr. Wessinghage weiß Rat von Stefan von Leesen

Wer erinnert sich nicht an die unfeine Szene, die letzten Freitag ein TV-Millionenpublikum in Rage brachte. Wattenscheids Abwehrspieler Hans-Werner Moser hatte im Zweitligaspiel gegen Mainz 05 dessen talentiertesten Spieler David Wagner mit einer brutalen und völlig unnötigen Attacke das Schien- und Wadenbein gebrochen. Diese Szene hat wieder einmal für enormen Zündstoff bei den Stammtischphilosophen der Fußballszenerie gesorgt. Dickbäuchige Herren werden einmal mehr in die ziemlich abgedroschende Diskussion ob „Sport Mord sei“ eingestimmt haben. Es ist sicherlich richtig, daß einzelne Herren wie Herr Moser immer wieder dafür sorgen, ihren Sport in Verruf zu bringen. Ob man aber aus diesem Grund gleich mit einer völligen Negation dieser Sportart reagieren sollte, bleibt fraglich.

Dr. Thomas Wessinghage, einst selbst Weltklasseleichathlet über die 5.000 Meter Distanz und inzwischen praktizierender Arzt an einem Rehabilitations-Zentrum in Norderstedt äußert sich zu diesem Thema differenzierter: „Diese Art von Sportverletzungen, so schlimm sie auch sein mögen, stellt nur einen verschwindend geringen Teil dar.“ Als viel entscheidender sieht Wessinghage die Tatsache an, daß in vielen Sportarten die Entwicklung der Sportmedizin über Jahre hinweg völlig mißachtet wurde. Nicht umsonst hat der Verband für Turnen und Freizeit gerade vor kurzem eine Broschüre mit einer „Hitliste der Krankmacherübungen“ herausgebracht. Aufgelistet werden so beliebte Übungen wie Knie- oder Rumpfbeugen, die zu Zeiten von Turnvater Jahn sicherlich ihre Berechtigung hatten, heutzutage aber vollkommen überholt sind.

Stretching zum Beispiel – eine Art des Aufwärmens, die richtig angewendet eine Steigerung der Elastizität der Muskulatur bewirkt und damit das Verletzungsrisiko minimiert – wird sehr häufig falsch durchgeführt. Übungsleiter gerade im Fußball, aber auch viele Freizeitsportler haben dieses Modewort irgendwo aufgeschnappt, wissen oftmals aber nicht, wie die Stretch-Übungen korrekt durchgeführt werden müssen. Die Folge: Schäden an Muskeln und Sehnen.

Trotz der Probleme in der Anwendung dieser sinnvollen Ergänzung zum normalen Trainings- und Spielbetrieb erkennt Wessinghage durchaus Fortschritte – gerade bei Fußballern, die auch hier ihrer Zeit noch ein wenig hinterherhinken. Ehemalige Leichtathleten und Physiotherapeuten haben inzwischen längst Einzug gehalten in die Domäne der traditionellen Fußballehrer. So versucht der einstige Zehnkämpfer Rainer Sonnenburg den Profifußballern des FC St. Pauli beizubringen, daß sich durch vernünftige Koordination des Laufstils das Verletzungsrisiko auf ein Minimum beschränken läßt. Diese Maßnahme soll angeblich bei Spielern wie Thorsten Fröhling und Dieter Schlindwein, die ja weithin nicht unbedingt als „Ballerinas“ oder Fußballästheten bekannt sind, für einige Verwirrung im Bereich der unteren Extremitäten gesorgt haben.

Nichtsdestotrotz wird die Entwicklung nicht aufzuhalten sein. Spätestens dann, wenn ein Sportler jedweden Kalibers ein Rehazentrum aufsuchen muß, weil er sich verletzt hatte, wird ihm klar werden, daß Übungen zur Steigerung der Muskelelastizität durchaus Sinn machen – sollten sie auch noch so lästig sein. Hat man sich dieses Wissen erst einmal eingeprägt, wird man diese Rituale sein Leben lang nicht vergessen und kann bei korrekter Anwendung zumindest der breiten Palette an Muskelverletzungen ein Schnippchen schlagen.

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