Großartiger Alltag

■ Kampnagel: Sasha Waltz' „Travelogue“ vor leeren Rängen

Eigentlich ist es nicht mehr zu verstehen: Seit Res Boss-hart neuer künstlerischer Leiter von Kampnagel ist, sind die Hallen dramatisch leer. Die Premiere von Sasha Waltz am Donnerstag besuchten neben den Pressevertretern und den Mitarbeitern des Hauses vier bis fünf zahlende Zuschauer, ein Zustand, der bisher bei beinahe allen Premieren in dieser Halle der gleiche war. Und selbst bei weltbekannten Acts wie der Needcompany oder Susanne Linke ist die große Halle 6 bei den ersten Vorführungen nur äußerst spärlich gefüllt.

Das absurde an dieser Situation ist, daß es keineswegs am Programm liegt. Sieht man von der katastrophalen ersten Eigenproduktion Bleckend Weiß einmal ab, sind die bisher gezeigten Gastspiele fast durchweg von außergewöhnlicher Originalität und Qualität, was aber die Besucher immer erst dann goutieren, wenn die lobenden Rezensionen erscheinen. Sasha Waltz, die ihre großartige Produktion Travelogue vor leerer Halle zeigen mußte, fühlte sich dann auch genötigt, nach dem euphorischen Applaus der zwanzig Anwesenden mit flehendem Blick um Mund-zu-Mund-Propaganda zu bitten. Es wird also höchste Zeit, daß die Kampnagel-Leitung die Außendarstellung verbessert, denn die Leidtragenden sind die Künstler.

Und diese haben es, wie das Beispiel Sasha Waltz zeigt, nun wahrlich nicht verdient. Denn ihre Choreografie von Alltagsszenen in einer WG-Küche im 50er-Stil besteht aus genauen Beobachtungen, intelligent und humorvoll umgesetzt. Drei Frauen und zwei Männer ermessen mit einer ganz unaffektierten und betont rhythmischen Bewegungssprache die Situationen eines Zusammenlebens zwischen Melancholie und Leidenschaft, zwischen kameradschaftlicher Langeweile und romantischem Sex.

Die unangestrengte Fröhlichkeit der Choreografie, mit der selbst bettlägrige Depressionen ein Schmunzeln provozieren, wird untermalt von einer Art kammermusikalischem Jazz des Tristan Honsinger Quintetts, der die ironische Zeichensprache aus Waltz' Choreografie in Töne fängt. Mit einem unglaublichen Einfallsreichtum für Bewegungen erzählt Waltz eine Sinfonie des Hausflurs, beschreibt das alte Geh-Weg-Komm-Her-Spiel mit Bolero-Späßen und Michael-Jacksonanden oder karikiert den Weg der Eitelkeit zur Unberührbarkeit. Vom Teenie-Zimmer leitet die in Berlin arbeitende, junge Choreografin über zu drei Hüpfbohnen, einem erotischen Herrenabend oder der Übersetzung einer Nähmaschine in Zuckungen. Zeichentrickfilm-Motorik und MTV-Surrealismus, Ekstase und Komödie finden gleichermaßen Eingang in die Geschichten der Sasha Waltz, ohne daß jemals das Gefühl eines Zuviel entsteht. Ein großer, kluger und unaufdringlicher Spaß.

Noch bis Sonntag, K2, jeweils 19.30 Uhr