: Demokratie ohne Parlament
Die Parlamentswahlen in Haiti verzögern sich / Gerüchte über neue Verschwörung gegen Aristide / Rolle der USA immer umstrittener ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard
Eigentlich sollten in Haiti in diesem Monat Parlamentswahlen stattfinden. Denn das Mandat von 20 der 29 Senatoren und des kompletten Unterhauses endet am zweiten Montag im Januar. Aber Präsident Jean-Bertrand Aristide wird während der kritischen Phase des Übergangs von der Diktatur zu einem demokratischeren Gemeinwesen ohne Parlament regieren müssen. Denn der ursprüngliche Fahrplan, das ist längst klar, kann nicht eingehalten werden. Nach den Richtlinien der Vereinten Nationen, die wie schon 1990 federführend bei der Organisation des Urnengangs sein werden, sind halbwegs reguläre Bedingungen in weniger als 19 Wochen nicht zu schaffen. Bisher konnte sich nicht einmal der provisorische Wahlrat konstituieren.
Vor März, so verlautete zuletzt in New York, sei daher an Wahlen nicht zu denken. Die Verzögerung würde den Mitarbeitern von Jean- Bertrand Aristide kein großes Kopfzerbrechen bereiten, wenn sie nicht gleichzeitig beobachten müßten, wie die Besatzungstruppen der USA aus den ehemaligen Schlägertrupps und Todesschwadronen der Militärs eine rechte Oppositionspartei zu schmieden versuchen. Und wenn das Zurückhalten der versprochenen internationalen Finanzhilfe die Regierung nicht zu Untätigkeit verdammen würde, was langsam einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung heraufbeschwört.
Kein Wunder, daß die lauteren Absichten der Besatzungsmacht immer mehr in Frage gestellt werden. Gérard Pierre-Charles, ein ehemaliger Berater Aristides, will nicht ausschließen, daß zumindest das Pentagon und der Geheimdienst CIA, die die Rückkehr des linken Präsidenten monatelang zu verhindern trachteten, einen macchiavellischen Plan hegen: „Es scheint, als wollten die USA die repressiven Strukturen nicht wirklich zerschlagen, sondern sie als Gegengewicht zu Aristide erhalten. Das besorgt uns sehr.“ Tatsächlich haben die Okkupationstruppen nach einer Razzia im Hauptquartier der „Front für den Fortschritt und das Weiterkommen Haitis“ (FRAPH) und einer wenige Tage dauernden Entwaffungsaktion gegen die rechtsextremen Paramilitärs nichts mehr unternommen.
Im Gegenteil: Wo die Bevölkerung ein Einschreiten gegen notorische Gewalttäter fordert oder das Ausheben eines Waffendepots verlangt, bekommt sie von den ausländischen Militärs beschieden, die FRAPH sei eine politische Partei und hätte ein Recht, sich zu organisieren. Gérard Pierre-Charles kann sich trotzdem nicht vorstellen, daß die rechtsextremen Gruppen im zukünftigen Parlament eine große Rolle spielen, auch wenn sie von Gesinnungsgenossen in den USA großzügige Wahlkampfhilfe erhalten sollten. Er hält die politische Niederlage der militärischen und paramilitärischen Kräfte für zu nachhaltig: „Die Bevölkerung kämpft seit dem Sturz von Jean- Claude Duvalier 1986 gegen die Restbestände des Duvalierismus. Sie muß jetzt in der Offensive bleiben“, sagt Pierre-Charles.
Der ehemalige Gewerkschafter und Direktor eines Sozialforschungszentrums zählt zu den Gründern der „Politischen Organisation Lavalas“ (OPL), die sich auf die soziale Basis der Volksbewegungen stützt. Sie grenzt sich von der „Nationalen Front für die Wende und die Demokratie“ (FNCD) ab, die einst Aristide als Vehikel für seine Kandidatur diente. Denn viele der auf dem Aristide-Ticket gewählten Parlamentarier liefen nach dem Putsch mit fliegenden Fahnen zu den Militärmachthabern über.
Gérard Pierre-Charles hält es für wichtig, daß das Kräftemessen zwischen den beiden Gruppen bereits bei den Parlamentswahlen stattfindet. Die FNCD hat als ältere Organisation weit mehr Basisgruppen selbst in den entlegensten Winkeln des Landes. Die OPL- Anführer rechnen zwar nicht mit dem offiziellen Segen Aristides, doch spekulieren sie damit, daß ein Großteil der FNCD-Basis, entrüstet über den Verrat der Parlamentarier, zu ihnen überlaufen wird. Anders aber als die FNCD, die bereits den populären Bürgermeister von Port-au-Prince, Evans Paul, als Präsidentschaftskandidaten aufbaut, hat sie bisher keine schillernden Figuren für die Nachfolge Aristides zu bieten. Und Evans Paul ist populär: Während der Diktatur flüchtete er nicht ins Exil, lebte die meiste Zeit im Untergrund und nahm immer wieder öffentlich gegen die Militärs Stellung. Als er letztes Jahr im Rahmen des Abkommens von Governor's Island von seinen Büros im Rathaus Besitz ergreifen wollte, wurde er von paramilitärischen Gruppen fast gesteinigt. Was ihn für viele verdächtig macht, ist allerdings sein intimes Verhältnis zu den USA, die ihn bereits als nächsten Präsidenten handeln.
Der Urnengang, wenn er denn in der ersten Jahreshälfte 1995 stattfindet, wird mehr als ein wichtiges Kräftemessen vor den Präsidentenwahlen im Dezember sein. Das erneuerte Parlament hat nämlich auch die Möglichkeit, sich dem von den USA und den internationalen Finanzorganisationen oktroyierten Wirtschaftsplan zu widersetzen.
Das Anpassungsprogramm, das Aristide auf einer Konferenz der Gebernationen im August akzeptieren mußte, verlangt die Privatisierung sämtlicher staatseigener Betriebe, darunter auch so hochrentabler Unternehmen wie der Zementfabrik, des Elektriziätswerks und der Telekommunikation. Ohne deren Gewinne aber kann die Regierung schwerlich auch nur ein minimales Sozialnetz aufbauen.
Die Verbündeten Aristides erhoffen sich von den Parlamentswahlen eine Vorentscheidung über die Kandidatenfrage und den endgültigen politischen Todesstoß für die Kräfte, die eine Rückkehr zum korrupten System des Duvalierismus anstreben. Jede weitere Verzögerung der Wahlen nährt daher die weitverbreitete Theorie, daß gegen die gerade erst eingesetzte Regierung eine neue Verschwörung im Gange sei.
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