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Der Bürger, die Hure

■ Die Retrospektive brasilianischer Literaturverfilmungen im Haus der Kulturen der Welt geht zu Ende. Ein Überblick

Sehr zum Verdruß seiner altjüngferlichen Schwestern und seines Sohnes Serginho, der der verstorbenen Mutter über die Maßen hinterhertrauert, verliebt sich der brave Bürger Herculano in die Prostituierte Geni. An einer Straßenecke zur Hauptverkehrszeit vereinbaren die beiden heimlich ihre Hochzeit; doch muß zunächst der Sohn auf Reisen geschickt werden.

Statt in Europa landet dieser jedoch im Knast, wo er von einem Mithäftling vergewaltigt wird. Später stimmt er unerwarteterweise der Heirat zu – unter der Bedingung, daß Geni seine Geliebte wird. So geschieht's. Serginho kann seine ödipalen Sehnsüchte mit der Stiefmutter ausleben, bis er auf Reisen geht und Geni sich in einer operettenhaften Abschlußsequenz die Pulsadern aufschlitzt.

„Alle Nacktheit wird bestraft“ von 1972 zeigt neben Schlaghosen, Spitzkragenhemden und viel Unterwäsche die Wirren um eine Liebe, die nicht sein darf. Angelehnt an ein Theaterstück von Nelson Rodrigues, entlarvt Regisseur Arnaldo Jabor die gutbürgerliche Doppelmoral. Das reichte den brasilianischen Zensoren, den Film zu verbieten, bis er 1973 für die Leistungen der Hauptdarstellerin Darlene Gloria bei der Berlinale den Silbernen Bären gewann. Was international geehrt wird, kann zu Hause schlecht verboten werden, und so kam der Film bald wieder in die brasilianischen Kinos.

Dabei ist von der Sprengkraft, die die Zensoren zur Tat schreiten ließ, heute nicht mehr viel zu spüren. Unentschlossen schwankt der Film zwischen einem psychologisierenden Sittengemälde und einer abgedrehten Groteske um die erstarrte, falschen Werten nacheifernde Mittelschicht.

Gemischte Gefühle rufen die meisten Filme hervor, die im Rahmen einer Retrospektive brasilianischer Literaturverfilmungen im Haus der Kulturen der Welt gezeigt wurden. Mal bleibt – wie in Walter Limas „Innocência“ von 1983 – eine Liebesgeschichte im Klischeehaften stecken, mal macht Bruno Barreto aus Jorge Amados Roman „Dona Flor und ihre beiden Ehemänner“ eine flache Erotikkomödie. Diese etwas unglückliche Auswahl mag an den Tücken des internationalen Verleihgeschäfts liegen, deutet aber auch auf einen qualitativen Niedergang in der brasilianischen Filmproduktion der siebziger und frühen achtziger Jahre hin. Individuelle Schaffenskrisen, harsche Zensurmechanismen, Geldmangel und letztlich auch die Einbindung der Regisseure in das staatliche Filmförderungsinstitut bekamen dem Filmschaffen des südamerikanischen Landes nicht.

Dabei hatte alles vielversprechend angefangen: Angefacht vom Sturz der Batista-Diktatur auf Kuba, begaben sich Künstler und Intellektuelle in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern auf die Suche nach eigenständigen, volksnahen Ausdrucksformen, die mit Entfremdung und Abhängigkeit abrechnen und den Unterdrückten eine Stimme verleihen sollten – der indigenen und schwarzen Bevölkerung genauso wie den Slumbewohnern der Metropolen. Dafür bot sich, wie man meinte, das Massenmedium Film an, und so zogen Brasiliens Filmemacher aus, den von Hollywood besetzten heimischen Markt zurückzuerobern.

Vorangetrieben von Regisseuren wie Glauber Rocha und Nelson Pereira dos Santos, entstand das Cinema Novo (Neues Kino), das mit Filmen wie „Nach Eden ist es weit“ (Pereira dos Santos, 1963) oder Rochas 1967 gedrehtem „Land in Trance“ die sozialen Mißstände in einer eigenen Formsprache auf- und angriff. Zentrale Figuren der Filme waren die Bewohner des kargen Nordostens, des sertao, und diejenigen, die die favelas der Großstädte bevölkerten. Low-budget-Produktionen waren die Regel; oft wurde mit Laiendarstellern gearbeitet.

Bis Ende der sechziger Jahre ließ das Militärregime die Cinema- Novo-Regisseure gewähren – nicht zuletzt wegen des internationalen Ansehens, das sie genossen. Dann verhärtete sich die Zensur, als Ausweg blieben das Exil oder eine metaphernreiche Filmsprache, die die Mißstände nur mehr indirekt aufzeigte. Von den Problemen der Bevölkerungsmehrheit wandte man sich denen der Mittelschicht zu. Die Filmreihe im HKW legt davon – vielleicht unfreiwillig – Zeugnis ab. Cristina Nord

Heute, 16 und 21 Uhr: „Erinnerungen aus dem Gefängnis“ (Nelson Pereira dos Santos, 1984).

26.1., 16 und 20 Uhr: „Macunaima“ (Joaquim Pedro de Andrade, 1969), Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten.

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