: Lebenslehren aus der Taiga
Von Heimweh geplagt putzt Natella Krasnikowa, einst beste Hockeyspielerin der UdSSR, deutsche Tennishallen und spielt immer weiter Hockey ■ Von Maren Becker
München (taz) – Ihr Leben, sagt die kleine Frau im Trainingsanzug, sei nicht eben schön. Die Frau wohnt neben Rasenplätzen in einem Holzhäuschen, das in den Sommermonaten als Umkleideraum benutzt wird. An den Außenwänden findet sich weder ein Namensschild noch eine Klingel. In den vergangenen Jahren ist fünfmal eingebrochen worden. Fließend Wasser gibt es nur Parterre. In ihrem ausgebauten Dachzimmer bummert der Ofen gegen die Kälte. Die Frau, die hier lebt, ist Natella Krasnikowa. Sie ist 41 Jahre alt und von Beruf Hockeyspielerin.
Es sind nicht nur die trostlosen Bedingungen, die sie manchmal ganz still vor Heimweh werden lassen. Krasnikowa ist in Mogotscha geboren, einem Dörfchen 7.000 Kilometer südöstlich von Moskau. Die Taiga muß sie ein einfaches Leben gelehrt haben. Ansonsten könnte sie wohl kaum schon vier Jahre in dieser Holzhütte in Frankfurt leben.
In ihrem Beruf ist Natella erfolgreich. Mit dem Bundesligisten Eintracht Frankfurt hat sie die Endrunde um die deutsche Hallenmeisterschaft erreicht, die dieses Wochenende in Berlin ausgetragen wird. Knapp 50 Tore hat sie in der Hallenrunde aus dem Spiel heraus geschossen, soviel wie keine andere. Dabei spielt die Russin erst seit vier Jahren Hallenhockey. Dabei ist sie keine ganz junge Frau mehr. Und es ist der Gedanke an die eigene Zukunft, der sie umtreibt. Natella sagt, sie wisse nicht, was später einmal aus ihr wird. In der Sowjetunion fühlte sie sich aufgehoben, hier mußte sie sich nicht um die Regeln außerhalb des Hockeyplatzes kümmern. In der Sowjetunion begann ihre Laufbahn, die heute wundersam erscheint.
Es ist die Zeit, als in Moskau die Kader für die Olympischen Spiele im eigenen Land zusammengestellt werden. Krasnikova hat ihr Sportstudium abgeschlossen. Sie spielt Basketball. Weil sie aber nur auf 160 Zentimeter gewachsen ist, wird die Gebietsauswahl bereits zur Endstation. Aus der Zeitung erfährt sie 1977 von einer guten Hockeymannschaft. Hockey kannte sie bis dahin nur in einer rudimentären Form: Mit Schlittschuhen unter den Filzstiefeln und selbstgemachten Schlägern auf vereisten Seen, wie man es in der Taiga zu spielen pflegte. Im Juli rattert sie mit der Eisenbahn in vier Tagen nach Moskau. In der Trainingshalle von Spartak Moskau hält sie, 24 Jahre alt, erstmals einen Hockeyschläger in der Hand. Fünf Minuten übt sie neben dem Kunstrasenplatz, beim Trainingsspiel wird sie in die zweite Mannschaft von Spartak eingewechselt und erzielt ihr erstes Tor. Schon im Dezember gehört Natella Krasnikowa zu den 22 Besten des Landes. Drei Jahres später ist sie Mannschaftsführerin der favorisierten UdSSR-Olympia-Equipe. Zehn Tage vor der Eröffnung müssen die Frauen im Olympiastadion von Dynamo Moskau die Treppen hochsprinten und „viele, viele dumme Sprünge machen“, sagt sie. Natella reißen im Oberschenkel die Muskelfasern. Statt, wie geplant, Gold, gewinnen die Frauen nur Bronze. Die Dummheit des Trainers, meint sie, hat ihr damals den großen Erfolg verwehrt.
In den folgenden Jahren gilt sie bei Welt- und Europameisterschaften als gefährlichste Angreiferin. Sie gewinnt Medaillen, wird mehrfach zur besten Spielerin gewählt. Beim Intercontinentalcup in Argentinien (1984) vergleichen Journalisten sie mit Maradona. Das russische Magazin Sport schreibt über die Torschützin aus Mogotscha: „Auf dem Hockeyfeld wendet Natella uneingeschränkt alle weiblichen Intrigen an, die in einem Spiel professioneller Täuschungsmanöver, in Körperdrehungen und plötzlichen Rhythmuswechseln bestehen. Sehr oft verwirrt das die Gegner dermaßen, daß sie wie versteinert dastehen und nur noch zusehen, wie die Krasnikova nach ihrem Solo den Ball ins Tor schießt.“
Krasnikova ist ein bescheidener Mensch. In Sport heißt es, Natella werde kaum auf den Gedanken kommen, daß sich mit jedem neuen Titel auch ihr eigener Wert steigern könnte. Als der Ostblock zerbricht, wirkt sich diese Zurückhaltung negativ aus. Krasnikowa ist 38 Jahre: zu alt, um in den Lehrberuf zurückzukehren. Natella hat auf den Rasenrechtecken der Welt versäumt, sich den veränderten Anforderungen anzupassen. Ihr 54 Kilogramm leichter Körper, der ihr schon im Kindesalter alle Sportarten so scheinbar mühelos gelingen ließ, ist ihr Kapital. Hockey wird ihre Existenz. „Ich weiß nicht“, sagt sie, „was ich sonst machen soll.“
Anfang 1990 kommt sie nach Deutschland. Hier erwartet sie niemand. Warum sie dennoch Wohnung und Freunde in Kiew verlassen hat, könne sie in deutschen Worten nicht ausdrücken. Die russische Sprache ist ihre Heimat. Und die ist sehr weit weg. Heute weiß sie, daß ihr in Deutschland mehr Versprechungen gemacht wurden, als je eingehalten worden sind.
Bei Eintracht Frankfurt trainiert Natella Jugendliche und bekommt etwas Geld dafür. Offiziell arbeiten darf sie nicht. Sie geht nebenan in der Tennishalle putzen – und schämt sich dafür. Erspartes läßt Natella ihrer Schwester in Kiew zukommen. Die brauche das Geld dringender. In der Ukraine möchte sie irgendwann einmal im Hockeyverband arbeiten, wohlwissend, daß man dort dringendere Probleme hat, als Kindern das Hockeyspiel beizubringen. Bis sie 50 Jahre alt ist, hat Natella Krasnikowa gesagt, werde sie weiter Hockey spielen. Das wäre auch ein Rekord. Natella Krasnikowa hat im Dachzimmer der Holzhütte versucht, darüber zu lachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen