: Scham und Revolution
Nach dem 0:5 bei Racing Santander steckt der FC Barcelona in der tiefsten Krise der Ära Johan Cruyff ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Die derzeitige Krise des FC Barcelona ist beileibe nicht die erste, die Johan Cruyff in seiner fast siebenjährigen Amtszeit als Trainer des katalanischen Klubs zu überstehen hat. 1992 schien selbst Präsident Josep Lluis Nuñez die Geduld zu verlieren mit seinem haßgeliebten Weggefährten beim FC Barcelona, der 1978 als Spieler maßgeblich zur Wahl des konservativen Baulöwen an die Klubspitze beigetragen hatte. Doch der langersehnte Europapokal der Landesmeister rettete Cruyff vor einem unrühmlichen Abschied, und der geradezu wundersame Gewinn der Meisterschaft wenig später tat ein übriges. Auch in der letzten Spielzeit lief keineswegs alles nach Plan, der Rückstand auf Deportivo La Coruña betrug zeitweise sechs Punkte, und manches Match ging mit Pauken und Trompeten verloren. Am Ende standen jedoch ein noch wundersamerer Titelgewinn und das Europacupfinale in Athen. Damit allerdings begann das ganze Unglück. Der AC Mailand deckte schonungslos die Grenzen des offensiven Cruyff-Systems auf, und die Mühelosigkeit, mit der Milan seine Tore zum 4:0 schoß, gab auch dem Barça-Coach zu denken. „Wir müssen lernen, uns zu verteidigen“, gab er als Devise aus und modelte das Team um. Torwart Zubizarreta, dessen Ballunsicherheit außerhalb seines Strafraumes beim riskanten Barça- Spiel für manche Kalamität sorgte, mußte gehen, Reserve-Ausländer Michael Laudrup wurde zu Real Madrid abgeschoben und durch den Rumänen Hagi ersetzt. Ins Team kamen Cruyff-Sohn Jordi, der vielversprechende Stürmer Escaich und der Russe Kornejew.
Doch der Wandel fiel schwer, hinzu kam die Unlust der WM- Stars Romario und Stoitschkow. Torwartmäßig kam Cruyff vom Regen in die Traufe, sowohl Busquets als auch Ersatzmann Lopetegui unterliefen fatale Fehler. Lopetegui patzte zuletzt bei der 1:4-Heimniederlage gegen Atletico Madrid im Pokal, Busquets beim 0:5 in Santander, wo er am Ende auch noch des Feldes verwiesen wurde, so daß Cruyff seinen dritten Torwart, zufällig sein Schwiegersohn, ins Tor beorderte. Hagi paßt nicht in das auf schnelles Abspiel ausgerichtete System, und Romarios Abgang zu Flamengo schwächte den Angriff weiter. Cruyffs System funktioniert aber nur, wenn die Mannschaft eine permanente Verteidigung durch Angriff betreibt. „Solange der Ball in der gegnerischen Hälfte ist, können wir kein Tor kassieren“, lautet Cruyffs Credo.
Genau das klappt momentan nicht. Während Reals Zamorano schon 18 Tore geschossen hat, ist Barcelonas bester Torschütze bezeichnenderweise Ronald Koeman mit sieben Treffern, darunter fünf Strafstöße. „Es gibt viele Spieler, die sich verstecken, und andere arbeiten nicht“, bemängelt Cruyff. Wenn dann, wie beim Tabellenvorletzten Santander, die Abwehrspieler Koeman, Nadal und Sergi fehlen, zudem Ferrer (umstritten) vom Platz gestellt wird, kommt es zur Katastrophe.
Im letzten Jahr waren selbst die Niederlagen Barcelonas, wie das 3:6 gegen Zaragoza oder das 3:4 bei Atletico Madrid nach 3:0-Führung, großartige Spiele, und Cruyff sah danach keinen Grund, in Verzweiflung zu verfallen. Diesmal sprach er davon, daß er sich schäme und daß eine Revolution notwendig sei. Angesichts der desolaten Verfassung des Teams wird dem Viertelfinale in der Champions League gegen Paris St. Germain mit Bangen entgegengesehen, die Meisterschaft hat wohl jeder in Barcelona abgeschrieben, obwohl der Rückstand zur Spitze auch jetzt nur sechs Punkte beträgt. Bloß heißt der Tabellenführer diesmal nicht La Coruña, sondern Real Madrid, das unter seinem Coach Jorge Valdano, einem der treuesten Cruyff-Epigonen, begeisternden Fußball spielt.
Bleibt die Frage, wie die Revolution des Johan Cruyff wohl aussehen wird. Auf den Nachwuchs zu setzen, das hat er bereits gesagt, wäre „kontraproduktiv“, bleiben also nur weitere Spielerkäufe. Und Cruyff wäre nicht Cruyff, wenn er dabei nicht zuerst an Stürmer denken würde. Natürlicher Topkandidat: Dennis Bergkamp, der bei Inter Mailand völlig fehl am Platze ist und als eine Art Michael Laudrup mit erhöhter Dynamik und Torgefährlichkeit perfekt in Cruyffs Konzept passen würde. Sicher scheint in Barcelona nur, wer der Robespierre der Revolution vom Nou Camp sein wird: Johan Cruyff, gerade mit einem neuen Vertrag ausgestattet und in der katalanischen Hauptstadt spätestens seit dem Europacupsieg von 1992 mit der Aura eines fußballerischen Midas behaftet.
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