Berliner Tagebuch
: Lippenbekenntnisse

■ Berlin vor der Befreiung: 4. März 1945

Foto: J. Chaldej/Voller Ernst

Nachher begleite ich den Gesandten Braun von Stumm zum Hotel Esplanade. Ich bin vielleicht der einzige Mensch in Berlin, demgegenüber dieser deutsche Diplomat vollkommen offen ist. Selbst meine besten Freunde unter den Nicht- Nazis ahnen nichts davon, daß Braun von Stumm längst mit Hitler fertig ist und daß er dem Nationalsozialismus keinerlei Glauben mehr schenkt.

Vor etwa einem Jahr aßen wir à deux „Schweinefleisch im eigenen Saft“. Braun von Stumm hatte den Rotwein mitgebracht. Er erhob sein Glas und sagte: „Ich weiß, daß ich mich Ihnen vollkommen ausliefere, doch das beunruhigt mich nicht. Denken Sie immer daran, daß ich, wenn ich bei den Pressekonferenzen in der Wilhelmstraße ,der Führer‘ sage – ,der Verführer‘ meine.“

Es ist die gleiche Tragödie wie bei so vielen anderen desillusionierten Deutschen: Das despotische und satanische Machtregime zwingt sie Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr zu einem Lippenbekenntnis gegen besseres Wissen und gegen ihre innere Überzeugung.

Mit erschütternder Deutlichkeit hat der Hitlerismus uns allen die Wahrheit enthüllt: Terror, Angst, Heuchelei und Lüge gehören untrennbar zusammen! Jacob Kronika

„Der Untergang Berlins“, Verlagshaus Christian Wolff, Flensburg/Hamburg 1946

Jacob Kronika, dänischer Journalist (1897–1982), zwischen 1932 und 1945 Berlin-Korrespondent der dänischen Zeitungen „Nationaltidende“ und „Dagens Nyheter“ sowie des schwedischen „Svenska Dagbladet“. Im nationalsozialistischen Berlin spielte er außerdem eine besondere Rolle, weil er von offizieller Seite als Sprecher der dänischen Volksgruppe in Südschleswig anerkannt war. Kronika bewegte sich daher ständig zwischen dem Vorwurf der Kollaboration und des Widerstands.

Recherche: Jürgen Karwelat