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Reisekosten? Nein Danke!

■ Die KZ-Überlebende Lucille Eichengreen liest nun doch in Hamburg – auf private Einladung

Erst jüngst, am 3. Mai 1995, beim Staatsakt anläßlich des 50. Jahrestages der Befreiung von nationalsozialistischer Diktatur und des Kriegsendes, zitierte Bürgermeister Henning Voscherau vor 20 000 Menschen auf dem Rathausmarkt ihren Namen: Cecilie Landau, die heute als Lucille Eichengreen in Kalifornien lebt. Nur in der Stadt, in der sie vor 70 Jahren geboren und aus der sie mit 16 Jahren zwangsweise verschleppt wurde, scheint man sie nicht gern zu sehen. Als im letzten Jahre im Zusammenhang mit einer geplanten Lesereise (Von Asche zum Leben, erschienen 1992) die dem Bürgermeister unterstellte Senatskanzlei um Übernahme der Reisekosten gebeten wurde, erfolgte die Ablehnung mit einer formal korrekten, aber politisch und moralisch schamlosen Begründung.

Lucille Eichengreen stammt aus keiner Hamburger Bankiersfamilie, sie ist nicht Tochter eines Rabbiners. Gleichwohl hat sie Erfahrung. Lagererfahrung.

Als Tochter jüdischer Eltern wurde sie am 1.2.1925 in Hamburg geboren. Ihr Vater wurde in Dachau ermordet, Cecilie Landau wurde mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester 1941 nach Lodz deportiert. Die Mutter verhungerte im Ghetto, die Schwester wurde in Chelmno ermordet. Nach der Selektion in Auschwitz „durfte“ Cecilie Landau 1944 nach Hamburg zurücckehren – zur Zwangsarbeit in den Außenlagern des KZs Neuengamme. Ihr Leidensweg endete in Bergen-Belsen. Nach der Befreiung des Lagers half sie den britischen Militärbehörden, die SS-Wachmannschaften des KZ-Außenlagers Sasel zu inhaftieren und anzuklagen.

Bislang konnte sich keine offizielle Stelle der Stadt, keine der in Hamburg mit dem Nationalsozialismus und der jüdischen Geschichte befaßten Institutionen, nicht die Universität Hamburg und auch nicht das Dokumentenhaus Neuengamme entschließen, Lucille Eichengreen zu einer Lesung einzuladen. Einer Bürgerinitiative in Poppenbüttel, die die Reisekosten übernahm, ist es zu verdanken, daß die gebürtige Hamburgerin 50 Jahre nach ihrer Befreiung von ihren Erfahrungen und Erinnerungen in ihrer ehemaligen Heimatstadt berichten kann.

Wer jenseits von Gedenkritualen den nicht immer bequemen Ein- und Ansichten dieser Frau zuhören und mit ihr diskutieren möchte, hat dazu in der nächsten Woche Gelegenheit: Am Montag, den 8.5., wird vom Projekt „Neue Frauenwandbilder“ ein Bildnis Lucille Eichengreens enthüllt. Mit diesem Wandbild soll den Frauen, die im Hamburger Hafen zur Zwangsarbeit eingesetzt waren und auf unmenschliche Weise gequält wurden, ein Andenken gesetzt werden. Die Enthüllung sowie eine Lesung finden in der Lawaetz-Stiftung, Große Elbstraße 16, um 11.00 Uhr statt.

Ebenfalls am 8. Mai wird Lucille Eichengreen auf Einladung des Staatlichen Studienseminars für die Lehrämter an Hamburger Schulen aus ihrem Buch lesen und diskutieren. Die Veranstaltung beginnt um 20.00 Uhr im Konferenzraum des Studienseminars, Hohe Weide 14.

Neben Veranstaltungen in Gymnasien und in der Universität Hamburg liest Lucille Eichengreen am 12.5. um 20.00 Uhr im Gemeindehaus der Vicelin-Kirche, Saseler Markt 7. Im Ortsteil Sasel bestand vor 50 Jahren eines der vielen Außenlager des KZ-Neuengamme. Die hier gefangenen Frauen waren gezwungen, unter grausamen Bedingungen sogenannte „Plattenhäuser“ als Behelfsheime zu bauen. Die damals 19jährige Cecilie Landau war eine der beiden Lagerschreiberinnen, die die Gefangenen- und Bewacherlisten führen mußten. Aufgrund dieser Tätigkeit konnte sie nach ihrer Befreiung an der Anklage ihrer ehemaligen Peiniger mitwirken.

50 Jahre nach ihrer Befreiung kehrt Lucille Eichengreen nochmals nach Hamburg zurück, der Stadt, die ihr so viel genommen und andauernden Schmerz verursacht hat. Bleibt zu hoffen, daß auch viele Hamburger bereit sind, sich ihrer, d.h. unserer, Geschichte zu stellen.

Wilfried Weinke

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