: Das Mekka für Städteplaner
Die Deutschen haben Rotterdam das Herz rausgebombt – und den Menschen eine Wunde zugefügt, die noch nicht verheilt ist ■ Aus Rotterdam Henk Raijer
Geräuschlos schwimmt er stromaufwärts, einem Schwan gleich. Auf zwei Pontons nähert sich der weiße Träger der Erasmusbrücke dem Zentrum Rotterdams. Hunderte von schutzbehelmten Männern überwachen auf Begleitschiffen die Überführung des Stahlkunstwerks – vom 20 Kilometer entfernten Ijmuiden bis zum Leuvehoofd im Herzen der Hafenmetropole. Wenn der Computer richtig gerechnet hat, wird der Schwan um 19.04 Uhr bei Ebbe seine Flügel auf den am südlichen Flußufer errichteten Pfeilern ausbreiten.
Rotterdamer lieben Lärm, denn er verheißt Fortschritt. Und sie haben eine Schwäche für Symbolik. Zehntausende stehen an diesem Frühlingsmorgen am Ufer der Nieuwe Maas, um das 140 Meter hohe neue Wahrzeichen der Stadt willkommen zu heißen. So wie sie es immer tun, wenn ein neues Bauwerk seiner Bestimmung übergeben wird in Rotterdam. Einer Stadt, deren Zentrum am 14. Mai 1940 innerhalb von wenigen Minuten von Görings Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt wurde.
Was für die jüngeren Schaulustigen an diesem Tag nur bloßes Spektakel ist, ist für die älteren 50 Jahre nach der Befreiung von der Nazi-Herrschaft am 5. Mai mehr als nur ein simpler Brückenschlag zwischen dem neuen Zentrum und dem alten Süden. „Für mich ist der Schwan so etwas wie ein neues Monument“, sagt Frits van Dijkman, 75, der bis zur Kapitulation der Niederlande am 14. Mai 1940 Soldat war. „Eines, das mir über den Schmerz hinweghilft, das mich versöhnt mit dem neuen Gesicht meiner Stadt, die so gar nichts mehr hat von dem, was ich mal kannte.“
Rotterdamer jenseits der Sechzig tun sich schwer mit Versöhnung. Am Mahnmal auf dem Plein 1940, wo jedes Jahr am 4. Mai der Opfer von Bombardement und Besatzung gedacht wird, ist diese Gemütslage nachvollziehbar. Am Rand einer von hypermoderner Architektur umgebenen Leere aus weißen Betonplatten streckt Ossip Zadkines Bronzestatue „verwoeste stad“ (zerstörte Stadt) in schierer Verzweiflung beide Arme gen Himmel, das Herz ist der Figur aus dem Körper gerissen.
Zehn Minuten brauchten die deutschen Bomber, um Rotterdam für Jahrzehnte zu einem Mekka für Städtebauer zu machen. „In Rotterdam erzählt man sich, die Deutschen hätten lediglich die Ausführung ohnehin längst beschlossener Sanierungsmaßnahmen in Angriff genommen, nur ein wenig radikal“, sagt Co van Schaik, 61, Besitzer eines PR-Büros im Stadtzentrum.
Am 18. Mai, Rotterdam kokelte noch, hatten die Behörden ihren Städteplanern bereits den Auftrag zum Wiederaufbau erteilt. Die Ausführung dieses „Basisplans“ freilich sollte erst nach Kriegsende ihren Anfang nehmen – schon allein weil bei den alliierten Bombardements ab 1942 weitere tausend Gebäude in Flammen aufgingen und die Nazis im Winter 1944/45 eine Politik der verbrannten Erde praktizierten. Eine systematische Zerstörung der Infrastruktur sollte die aus Frankreich aufrückenden Alliierten daran hindern, den Rotterdamer Hafen für ihren Nachschub zu nutzen.
Noch 1945 war die Erinnerung an das historische Zentrum äußerst lebendig gewesen. Im „Basisplan 1946“ jedoch hatte man auch den letzten verbliebenen Gedanken an eine Restaurierung ins Reich der Nostalgie verbannt – Rotterdam sollte ein modernes Zentrum erhalten, konzipiert für die Bedürfnisse einer Metropole.
„Priorität hatte natürlich der Hafen“, erklärt Co van Schaik, der als Fernmeldetechniker den Wiederaufbau seiner Stadt aktiv mitgestaltet hat. „Im neuen Zentrum sollte nicht gelebt, sondern gearbeitet werden.“ Wohnungen gibt es trotz mehrmaliger Revisionen des Konzepts auch heute kaum an Weena und Coolsingel. Das gigantische Handelsgebäude (1949–51), die erste Fußgängerzone Europas, Lijnbaan (1949–53), das Kaufhaus Bijenkorf (1955–57), die futuristisch anmutenden Würfel-Wohnhäuser (1978–84) am Blaak sowie die Glastempel des World Trade Center, der ING-Bank, Shell, Unilever und der Credit Lyonnais aus den achtziger Jahren – all diese spektakulären Hochbauten sind Monumente baumeisterlichen Muts, mit herkömmlichen Vorstellungen radikal zu brechen. „Man muß sie nicht alle schön finden“, so Co van Schaik, „sie machen unsere Stadt aber einzigartig. Und jedes neue Gebäude, das eine Lücke füllt, fördert das Wir-Gefühl derer, die sich erinnern.“
Trotz dynamischen Wiederaufbaus haben die Rotterdamer nicht vergessen. Rund tausend Menschen starben wegen der Bombardements, wurden von einstürzenden Gebäudeteilen erschlagen, verbrannten, erstickten. Nahezu der gesamte Stadtkern fiel der Feuersbrunst zum Opfer. 24.000 Wohnungen wurden verwüstet, 80.000 Einwohner verloren ihr Hab und Gut. 2.500 Geschäfte, 1.200 Fabriken und Werkstätten, 500 Gaststätten, 70 Schulen, 21 Kirchen und vier Krankenhäuser waren nur noch Ruinen auf einer Fläche von 250 Hektar.
Einer in 600 Jahren gewachsenen Stadt wurde das Herz rausgebombt – und ihrer Bevölkerung eine Wunde zugefügt, die bis heute nicht verheilt ist.
Daan Visser haßt nicht. Grund genug hätte er allerdings. „Ich war 15, als das Haus meiner Eltern ausbrannte“, erzählt der 70jährige. Er füttert Tauben, die es sich in der warmen Frühlingssonne auf dem Vordach seiner Obergeschoßwohnung im alten Arbeiterbezirk Feijenoord bequem gemacht haben. „Zweimal haben sie mich geschnappt und zum Arbeitsdienst nach Deutschland verschleppt, das letzte Mal am 10. November 1944, als sie in Rotterdam an nur einem Tag 50.000 Mann hochgehen ließen und ich nach Hamburg kam.“
Von seinem Küchenfenster aus blickt Visser, der Jahrzehnte seines Lebens auf der Wilton-Feijenoord-Werft gearbeitet hat, auf die neue Skyline der Metropole. Über jede Bombe, die später auf Hamburg niederging, habe er sich diebisch gefreut, gesteht er. Groll hege er nicht gegen die Deutschen, schon gar nicht gegen die jüngeren. Aber die Nazis hätten ihm immerhin fünf Jahre seines Lebens genommen. „Das steckt man nicht so leicht weg.“ Mit den Deutschen gemeinsam gedenken? „Auf keinen Fall!“
„Wir sind noch nicht so weit, daß wir mit den Deutschen zusammen das Kriegsende feiern könnten“, findet auch Marinus van der Zouwen, 75, gebürtiger Rotterdamer und Sprecher der Vereinigung ehemaliger politischer Gefangener, „Expoge“. „Dafür muß unsere Generation wohl erst aussterben.“ Hollands Regierung habe besonnen gehandelt, als sie nach lautstarken Protesten vor allem aus Kreisen ehemaliger Widerstandskämpfer ihre offizielle Einladung an Bundeskanzler Helmut Kohl wieder zurückzog. „Am 5. Mai wurden wir von den Deutschen erlöst, da wollen wir unter uns bleiben. Wir müssen unbedingt vermeiden, daß an unserem Jahrestag Menschen Kränkungen erfahren, deren Angehörige in Konzentrationslagern umgekommen sind oder von der SS wegen Nichtigkeiten standrechtlich erschossen wurden.“
Deutschstunde am traditionsreichen Erasmus-Gymnasium in Rotterdams Zentrum. Für die Schüler der 6b ist es die letzte, nach den Osterferien beginnt das Abitur. Thema in diesem Jahr: Der 50. Jahrestag der Befreiung Hollands von Hitlers Schergen. Zwischen den chromblitzenden Armaturen des Physikraums wirken die Vokabeln an der Tafel fremd, die für die Umschreibung deutscher Befindlichkeit seit 1945 unerläßlich sind. Die Klasse 6b diskutiert an diesem Vormittag über Vergangenheitsbewältigung und -verdrängung, Zäsur und die Unfähigkeit zu trauern.
Marcia, ihren Gesichtszügen nach Niederländerin surinamischer Herkunft, versteht zwar die Unversöhnlichkeit ihrer älteren Mitbürger. Schließlich hätten „die Nazis den Menschen hier in Rotterdam unendliches Leid“ zugefügt. „Aber ein wenig Vergangenheitsbewältigung könnte auch unserer Nation nicht schaden“, fügt die 18jährige hinzu. Wenn am 4. Mai, wie jedes Jahr, im Treppenhaus des Gymnasiums der 62 zwischen 1940 und 1945 ums Leben gekommenen Schüler gedacht wird und alle ihre Namen mit feierlicher Stimme verlesen, bekomme auch sie eine Gänsehaut, sagt sie. Daß jedoch viele Niederländer daraus das Recht ableiteten, die Deutschen bis in alle Ewigkeit zu hassen, sich selbst noch dazu als ein einzig Volk von Widerstandskämpfern zu apostrophieren, zeige, daß man an einer „konstruktiven Vergangenheitsbewältigung“ nicht interessiert sei, sondern nur ein Feindbild konservieren wolle. Eine Position, die so manch älterem Rotterdamer einen Stich versetzen dürfte. Aber Marcias Mitschüler und ihr Deutschlehrer nicken zustimmend. Am Gymnasium Erasmianum, das von Bomben und Flammen nur deshalb verschont blieb, weil der Wind drehte, ist vom angeblich grassierenden Deutschenhaß unter Hollands Jugendlichen nichts zu spüren. Spannungsfrei jedoch ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Niederländern auch ein halbes Jahrhundert nach der allzu heftigen Umarmung durch das „arische Brudervolk“ beileibe nicht. So mancher Zeuge des Bombardements hatte sich geschworen, es dem Aggressor eines Tages heimzuzahlen. Einige, so auch Marinus van der Zouwen, tauchten ab, organisierten sich im Widerstand, verloren Verwandte und Freunde – und bekommen noch heute Aggressionen, wenn sie deutsche Sprache vernehmen, die nicht selten im Befehlston daherkommt. „Von diesen Leuten zu verlangen, sie möchten ,die Sache mit den Deutschen‘ nach einem halben Jahrhundert endlich begraben, mag politisch richtig sein“, sagt van der Zouwen, „aber emotional nach wie vor nicht drin.“
Glaubt man älteren Niederländern, so war jeder zweite ein Widerstandskämpfer oder versteckte zumindest einen im Schlafzimmerschrank. Wenn aber am Vorabend des 5. Mai fast traditionsgemäß kühle Indifferenz in haßerfüllte Abgrenzung umschlägt, ja fast auf Knopfdruck antideutsche Ressentiments reaktiviert werden, so hat das in vielen Fällen leider weniger mit erfahrenem Kriegsleid zu tun als mit Scham – mit der Erinnerung, die nicht wenige Ältere kompromittiert. Nirgendwo sonst haben während der deutschen Besatzung so viele als SS-Freiwillige kollaboriert, nirgendwo sonst in Europa wurden den Nazis prozentual so viele Juden zum Abtransport serviert wie in Holland. Von den 140.000 Juden, die bei Ausbruch des Krieges in den Niederlanden lebten, wurden 107.000 deportiert. Und 107.000 Juden kehrten nie mehr zurück.
Aber Befreiungsfeiern sind für alle da. Nicht nur in Rotterdam, überall in den Niederlanden läuft in den Tagen um den 5. Mai die Gedenkmaschinerie auf Hochtouren. Ausstellungen, Symposien, Friedensfrühstücke, Paraden, Gedenkkonzerte, Befreiungs-Popfestivals. Über den Rotterdamer Coolsingel rollen sogar russische Panzer, von kanadischen Befreiern gesteuert. Zeitungen legen ihren Ausgaben seitenweise gedruckte Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiter bei. Fast jeder Fernsehsender zerrt KZ-Überlebende und Ex-Widerstandskämpfer vor die Kamera. Und wer in Rotterdam vom Hauptbahnhof zum Maasufer möchte, fährt mit der Straßenbahnlinie 1, die aus gegebenem Anlaß in „bevrijdingstram“ umgetauft wurde.
Gegenüber dem Leuvehoofd dockt Punkt 19.04 Uhr der Träger der Erasmusbrücke an, stundenlang haben die Menschen am Ufer der Nieuwe Maas deshalb ausgeharrt. Im Abendrot glitzert die Amtskette des Bürgermeisters, eine Kapelle spielt Schunkelmelodien im Dreivierteltakt. Zwar würden die ersten Autos den Fluß erst im Juli 1996 überqueren, weiß der alte Frits van Dijkman. In den Köpfen der Rotterdamer aber ist die Brücke bereits funktionstüchtig: „Wir Älteren empfinden den heutigen Brückenschlag als Vollendung eines 50jährigen Wiederaufbauprojekts.“ Andere Brückenschläge lassen wohl noch eine Weile auf sich warten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen