: Pummeliger Erotomane und Hypochonder
■ Ulrich Weinzierl räsoniert über „Lieben Träumen Sterben“ bei Arthur Schnitzler
Auf Fotografien blickt einem ein pummeliger, vollbärtiger Mann entgegen, der mit einem Auge mürrisch, mit dem anderen ängstlich zu blicken scheint. Kaum vorzustellen, daß der Wiener Mediziner und Schriftsteller Arthur Schnitzler im Privatleben ein Erotomane war, der sich täglich beherzt in zuweilen drei verschiedene Betten stürzte und eine Statistik seiner Orgasmen führte. Mal ganz abgesehen vom äußerlichen Eindruck: allein wie die stets von etlichen Briefen begleiteten Eskapaden und Leidenschaften mit der Arbeit als Arzt und der immensen literarischen Produktivität zeitlich harmonieren konnten, ist einem heutzutage ein Rätsel.
Stets aufs neue ein Rätsel, müßte es heißen, denn Schnitzlers Liebesleben war ja schließlich – auch den Geliebten – nie ein Geheimnis. Schon zu seinen Lebzeiten hat etwa Theodor Reik begonnen, sein Werk psychoanalytisch zu deuten, wobei die erotische Komponente in „Liebelei“, dem „Reigen“ oder in „Fräulein Else“ am unergiebigsten sein mußte, konnte eine Kompensation des Sexualtriebes doch nicht ernsthaft vermutet werden. Auffälliger sind die vielen Tode und Selbstmorde, die vertrackten Eltern-Kind-Beziehungen, die diese „Melancholi-ödien“ meist tragisch enden lassen. Sigmund Freud schrieb an Arthur Schnitzler, in dessen Dramen sehe er ausgeformt, was er selbst in der menschlichen Seele zu erforschen sich bemühe. Todestrieb, Projektionen und Traummotive treiben die Schnitzlerschen Theaterfiguren neben dem puren Eros an, was diese im österreichischen Großbürgertum beheimateten Stücke über das Verfallsdatum rettet.
Auch der Autor selbst ist sicher eine komplexe und komplexreiche Persönlichkeit gewesen. Ein Hypochonder und reger Wach- und Schlaf-Träumer, der seine nächtlichen Träume oft niederschrieb, manchmal knapp deutete und von Sekretärinnen abschreiben ließ. Über Schnitzlers Beziehung zu den Eltern und dem Bruder, zu seinem Schreiben und zur Homosexualität können diese Träume wohl tatsächlich noch besser Aufschluß geben als die literarische Produktion.
Ulrich Weinzierl, der Wiener FAZ-Redakteur und brillante Biograph des Feuilletonisten Alfred Polgar, hat dieses unveröffentlichte Material zur Grundlage genommen, um wesentliche Aspekte
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von Schnitzlers Biographie und Werk neu zu deuten – manchmal auch nur in neue Zusammenhänge zu bringen. Allerdings: Schnitzler unplugged erhält man auch nicht durch eine Traum-Hermeneutik. Denn was er erinnerte und niederschrieb, unterlag ja notwendig der Kontrolle des Bewußtseins. Und wie es Weinzierl interpretiert, kann nicht frei von Projektionen sein. Ganz abgesehen davon, daß die Konfrontation mit Schnitzlers Unbewußtem ja doch vor allem für Schnitzler selbst interessant gewesen wäre. Und der ist seit 64 Jahren tot.
Weinzierl thematisiert Arthur Schnitzlers Beziehungen zur Familie, zur Psychoanalyse, zu Frauen und zum Tod mittels literarischen Zitaten, Erinnerungen von Zeitzeugen und eben den Träumen des Dichters. Eine feuilletonistische Mischung von motivorientiertem Autoren-Psychogramm und autobiographischer Werkauslegung wird erstellt und in Zeitgeschichte eingebettet. Manchmal verliert sich das in marginalen Details (Wen interessiert etwa, daß der Psychoanalytiker Rudolf von Urbantschitsch seine Analyse bei Paul Federn und Sándor Ferenczi machte?), dann wieder „analysiert“ der Autor allzu forsch, wenn er etwa vermutet, der Erstgeborene Arthur Schnitzler habe sich am frühen Tod des zweitgeborenen Bruders zeit seines Lebens schuldig gefühlt, weil er den Rivalen an der Mutterbrust insgeheim beseitigen „wollte“.
Auch die erotischen Phantasien von Schnitzlers Tochter Lili werden aus deren Tagebuch zitiert. Erhellt das tatsächlich das Werk des Vaters, oder wird da nicht auch eine Lust an der Enthüllung um ihrer selbst willen spürbar, auch wenn das Buch in durchgehend lakonischem Ton verfaßt ist?
Belesen jongliert Weinzierl mit den verschiedenen Bestandteilen, aus denen er sein Buch zusammensetzt – ein Experiment, das für Schnitzler-KennerInnen und -LiebhaberInnen durchaus spannend sein kann. Allerdings werden im Anhang selbst fast zehn Seiten zum Thema passender Literatur angeführt, und mit seiner Autobiographie „Eine Jugend in Wien“ und etlichen Tagebüchern für die Nachwelt war der Dichter selbst ja auch nicht gerade verschämt. Und falls es doch noch versteckte, allerletzte Winkel in Schnitzlers Leben und Psyche gibt, so werden sie hier wohl weniger ausgeleuchtet, sondern bestenfalls in der Parenthese der Spekulation zur Diskussion gestellt.
Ulrich Weinzierl: „Arthur Schnitzler. Lieben. Träumen. Sterben“. Fischer Verlag, 288 Seiten, 38 DM.
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