: Ohne Fisch und Tadel
Steffi Graf und Arantxa Sanchez-Vicario knüpfen an alte Evert-Navratilova-Zeiten an ■ Aus Wimbledon Matti Lieske
Bestürzende Nachrichten brechen am Ende des Tennisturniers von Wimbledon über alle traditionsbewußten Engländer herein: die Championships sind von einem gravierenden Verlust nationaler Identität bedroht. Daran, daß alle wichtigen Matches ausschließlich von blutigen Ausländern bestritten werden, haben sich die Briten zwar längst gewöhnt, aber daß sich nun sogar auf dem Nahrungsmittelsektor der ehrwürdigen Filzballinstitution der unheilvolle Einfluß der Europäischen Union bemerkbar macht, dürfte nicht nur den Thatchers, Portillos und Redwoods aus der Konservativen Partei ein Dorn im Auge und Pfahl im Fleische sein.
Eine Analyse der in den ersten fünf Tagen des Turniers einverleibten Viktualien ergab, daß erstmals Pizza die heimischen Fish and Chips vom ersten Platz der Rangliste angebotener Spitzen-Delikatessen verdrängt hat. 12.500 Pizzastücke wurden verputzt, der tote Fisch brachte es nur auf schlappe 9.000 Abnehmer. Der Triumph perfider italienischer Teigwaren über den englischen Gaumen kann auch nicht dadurch wettgemacht werden, daß in gleicher Zeit 30.000 Becher Gin-Tonic-Sorbet und an jedem Tag zwei Tonnen genuin britische Erdbeeren in die Mägen der Besucherinnen und Besucher des Geländes an der Church Road wanderten. Auf dem Getränkesektor nämlich dominiert schon wieder das welsche Element. Was sind schon 40.000 half-pints Pimm's gegen 70.000 Flaschen Coca-Cola und ungenannte, aber offensichtlich beträchtliche Mengen eines fremdländischen Getränks namens Champagner? Letzteres vermittelte zahlreichen Zuschauerinnen und Zuschauern im Verein mit der vorherrschenden Sonnenglut zeitweise ein Gefühl, als seien sie von einem Aufschlag des Kroaten Goran Ivanisevic getroffen worden.
Der hatte sich im Halbfinale gegen Pete Sampras verabschiedet, aber zuvor nicht vergessen, darauf hinzuweisen, daß er sich keineswegs für die Unterhaltung des Publikums zuständig fühle. „Ich will ein Turnier gewinnen“, hatte er auf die Frage geantwortet, ob sein aufschlagbetontes Tennis nicht zu langweilig sei, und angefügt: „Wer Unterhaltung will, soll zu den French Open gehen oder sich Frauentennis anschauen.“
Ein prächtiger Vorschlag, zumindest, was das Finale zwischen Steffi Graf und Arantxa Sanchez- Vicario betrifft. Das Spitzenduo der Weltrangliste lieferte sich ein vorzügliches und spannendes Match, so wie es das dem Vorwurf der mangelnden Attraktivität ausgesetzte Frauentennis gerade im Moment bitter nötig hat. Die Tour der Women's Tennis Association (WTA) ist nach wie vor ohne Hauptsponsor, doch nach dem Endspiel von Wimbledon und dem mutmaßlichen Comeback von Monica Seles kann WTA-Präsidentin Martina Navratilova erheblich selbstbewußter auf die Suche gehen.
Das hohe Niveau des Finales war zunächst vor allem ein Verdienst der Spanierin, die dieses Jahr in Wimbledon zum ersten Mal richtig gut spielte und gegen eine keineswegs schlechte Steffi Graf begann, als habe sie tagelang Videos von Andre Agassi gesehen. Arantxa Sanchez-Vicario, das ist bekannt, vermag wie ein Wiesel zu rennen. Würde sie auf Leichtathletik umsatteln, gewänne sie vermutlich jeden Marathon und wäre, bei ein bißchen Spezialtraining, außerdem spanische Sprintmeisterin. Gegen Graf erlief sie aber nicht nur fast jeden Ball, sondern schlug auch noch hervorragend auf, returnierte gut, vollführte geschickte Netzangriffe, spielte perfekte Stopps und passierte ihre Gegnerin nach Belieben. Sie präsentierte exzellentes Rasentennis wie das von Agassi am Anfang seines Matches gegen Boris Becker, und es hielt auch ungefähr genausolange an.
Nachdem Sanchez-Vicario den ersten Satz mit 6:4 für sich entschieden und Graf im zweiten ihre Aufschlagspiele zum 2:1 mit großer Mühe gewonnen hatte, begann die Spanierin plötzlich, Fehler zu machen. Mußte sich ihre 26jährige Kontrahentin vorher jeden einzelnen Punkt hart erkämpfen, bekam sie jetzt kleine Geschenke. Steffi Graf, die hinterher sagte, daß sie sich von Anfang an etwas müde und energielos gefühlt habe, brauchte zwei, drei Spiele lang nur den Ball über das Netz spielen, den Rest besorgte Sanchez-Vicario allein, indem sie entweder spektakuläre Punkte oder leichte Fehler machte, die sich zu Spielgewinnen für die Deutsche summierten.
Auf diese Weise fand Graf in das Match, holte sich den Satz mit 6:1, und im dritten Durchgang waren dann beide auf der Höhe ihres Könnens. Es gab Breakbälle hüben und drüben, doch alles kulminierte beim Stande von 5:5 im elften Spiel, das 19 Minuten dauerte und 13 Mal über Einstand ging. Jeder Ballwechsel wurde vom Publikum mit Raunen, Stöhnen und Jubel begleitet, zwischendurch gab es frenetischen Applaus, die Intensität stieg von Minute zu Minute, denn allen war inzwischen klar, daß dieses Aufschlagspiel von Arantxa Sanchez-Vicario das Match entscheiden würde.
Aber so sehr die Spanierin auch kämpfte, so genial sie die Bälle plazierte, sie schaffte es einfach nicht, ihre Spielbälle zu verwerten, weil die ungewöhnlich offensive Steffi Graf, die insgesamt 30 Punkte am Netz holte, häufig eine noch bessere Antwort parat hatte. Eine druckvolle Vorhand vollendete das Break, das Publikum stand auf den Füßen und ein englischer Journalist staunte, dies sei die erste Standing ovation, die er in Wimbledon während eines Matches erlebe.
Ihren folgenden Service zum 7:5 brachte Steffi Graf, die nach eigener Auskunft beim Seitenwechsel so müde war, daß sie nicht wußte, ob sie überhaupt den Arm zum Aufschlag heben könnte, zu null durch, damit hatte sie ihren sechsten Wimbledontitel gewonnen, während die 23jährige Spanierin diesmal noch leer ausging. „Ich freue mich auf nächstes Jahr“, sagte sie, sichtlich überwältigt von ihrer neuentdeckten Liebe zum Rasentennis.
Dann allerdings könnte es, wenn Monica Seles wieder mitspielt, noch etwas schwerer werden, jenen begehrten Teller zu gewinnen, den die Herzogin von Kent der Siegerin zu überreichen pflegt. Präsentiert wird die Trophäe im übrigen auf einem Tischlein, das mit dem Union Jack bedeckt ist. Irgend etwas muß Britannien schließlich der vermaledeiten Pizza entgegensetzen.
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