: „Der Drang zu helfen ist eine Art des Wegschauens“
■ Angesichts der Elendsbilder aus Bosnien: Darf man noch Einwände gegen den Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan haben? Eine Polemik von Wolfgang Michal
Täglich fliegen sie mit ihren zu Tornados umgebauten Füllfederhaltern Kampfeinsätze über Bosnien. Jeden Morgen erwartet uns ein mediales Trommelfeuer aus „Hölle“ und „Völkermord“. Jede Zeile trieft vor Abscheu und Empörung über jene, die keine Raketen auf die Hitlers unserer Zeit schießen wollen.
Thomas Mann nannte den aufblühenden Nationalhumanismus in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ euphorisch „Gedankendienst mit der Waffe“ und juchzte, es seien nicht Staat und Wehrmacht gewesen, die ihn, den Intellektuellen, „eingezogen“ hätten, „sondern die Zeit selbst“.
Ja, es war heiß damals, im August 1914, und die Emotionen schlugen hoch. Heute wissen wir aus der Forschung, wie das Auswärtige Amt die damalige Presse und ihre Intellektuellen munitionierte, damit diese die rechte Kriegsbegeisterung ins Volk trugen.
Auch heute ist es erstaunlich, daß bald 100 Prozent der veröffentlichten Meinung den deutschen Bombereinsatz über Bosnien wünscht, während die Umfragen noch immer ergeben, daß drei Viertel aller Deutschen strikt jeden Kampfeinsatz ablehnen. Lasches Volk! Wir werden euch schon noch Beine machen!
Was derzeit in Deutschland abgeht, ist eine Stimmungsmache, die sich dem Urteil Oskar Lafontaines vom „gedankenlosen Kleinbürger- und Spießbürgertum“ freiwillig unterordnet. Viele Kommentare haben jedes Maß und jede Distanz zur Regierung verloren. Eine humanitäre „Kampfpresse“ trägt die Regierung Kohl zum Jagdbomber.
Dabei geht es gar nicht um Bosnien, sondern darum, wer künftig in Europa die Nummer 1 ist. Die Deutschen sind drauf und dran, wieder dort anzufangen, wo sie schon einmal standen, ja, sie sind drauf und dran, Europa mit ihrer nervtötenden Sturm-und-Drang- Politik – die sich diesmal gutwillig und reinen Herzens dünkt – zu zerstören.
Denn die Deutschen sind die einzigen, die die europäische Einigung „mit aller Gewalt“ und so schnell wie möglich durchsetzen wollen, während die übrigen Kräfte – namentlich Großbritannien und Frankreich – immer stärker bremsen und hinhalten. Weil sich nun aber die Wut über die Bremser nicht direkt ausdrücken läßt, weicht die deutsche Hysterie auf allerlei Nebenkriegsschauplätze aus: Brent Spar, Moruroa, Bosnien.
Warum, so frage ich mich, irritiert es die kritischen Intellektuellen, aber auch Teile der Grünen und der Sozialdemokraten nicht, daß auf diesen drei Gebieten eine Allparteienkoalition entstanden ist, wie sie geschlossener gar nicht sein kann? Ist denn jede vernünftige Analysefähigkeit hinsichtlich von Interessen, hinsichtlich der Frage „Wem nützt es?“ verlorengegangen?
Vielleicht weil jeder, der angesichts wortloser Doppelseiten mit Elendsbildern aus Bosnien noch wagt, kritische Anmerkungen zu machen oder gar Einwände zu formulieren, sofort als „Fundamentalist“, „Ideologe“ oder „Serbenfreund“ gilt.
Je mehr die deutsche Politik auf den Balkan drückt (und sie hat 1991 damit angefangen!), desto stärker wird der britisch-französische Gegendruck. Dieser innereuropäische Machtkampf um die Vorherrschaft in Europa sucht sich – wie in den Jahren nach der Reichsgründung 1871 – sein Ventil auf dem Balkan. Bismarck, der schlaue Machiavellist, hat es so formuliert: Wir müßten die Probleme, die unsere Nachbarn mit der deutschen Einigung, also mit der plötzlichen deutschen Größe und Wichtigkeit haben, auf den Balkan ablenken. Er sagte wörtlich: „ablenken“! Denn dort, wo kein pommerscher Grenadier die Knochen hinhalten sollte, hätten die Deutschen – so der Kanzler 1876, so sein Nachfolger 1995 – keinerlei Interessen. Der Fürst irrte! Wir hatten.
Was in der heutigen Analyse der Balkanpolitik weitgehend fehlt, weil wir wie Kaninchen auf Bosnien starren, ist eine Debatte über den inneren Zusammenhang der deutschen, französischen, britischen, russischen Außenpolitik. Warum dieser Balkankrieg nicht beendet, sondern seit vier Jahren von den Westmächten und von Rußland auf kleiner Flamme gehalten wird, ist nur zu begreifen, wenn man die weitergehenden Interessen aller Beteiligten in der neuen „orientalischen Frage“ verfolgt.
Die deutsche Machtpolitik (und die interessiert uns in erster Linie) wollte schon immer ein durchgehendes Einflußgebiet von Borkum bis Basra, von der Adria bis zum Persischen Golf. Die deutsche Balkanpolitik ist deshalb nur im Zusammenhang mit der deutschen Türkei-, Irak-, Nahost-, Kaukasus- und Iranpolitik zu begreifen. Diese Südoststrategie hängt ihrerseits eng mit der deutschen EU- und Ostpolitik zusammen.
Die traditionelle deutsche Ost- und Südostexpansion ist den Westmächten Großbritannien und Frankreich, aber auch Rußland aus leidvoller Erfahrung bekannt. Deshalb haben sie so bitter auf die deutsche Anerkennungspolitik gegenüber Kroatien, Bosnien und Makedonien reagiert. Deshalb wehren sie den Anfängen, wenn sie Deutschland auf dem Balkan mit dezenten Mitteln – etwa der hastig einberufenen „schnellen“ Eingreiftruppe – zu verstehen geben, daß sie die Deutschen nicht dabeihaben wollen. (Offiziell fordern sie natürlich die Deutschen zum Mitmachen auf, um nicht als Meuchler Europas am Pranger zu stehen).
Wie also den Balkankrieg in dieser innereuropäischen Krise beenden?
Ich fürchte, nicht „Augen zu und eingreifen“ ist die Alternative, sondern „Augen auf oder weitere Eskalation“. Die momentane Einengung der Debatte auf den unmittelbaren Drang des Helfens ist nur eine besonders gewissenhafte Art des Wegschauens.
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