■ Reinhold Messner: Wird die Mauer sein Schicksal?
: Die Rache des Heiligen Berges hat uns alle eingeholt

Beim Versuch, in sein Südtiroler Anwesen einzudringen, scheiterte Bergsteiger Reinhold Messner an der vier Meter hohen Burgmauer. Er stürzte ab und zertrümmerte sich das Fersenbein. Der Drang zur Höhe ist nun rüde gestoppt, die Schwerkraft hat einen heimtückischen Sieg errungen. Im Bozener Krankenhaus bangt der Extremsportler jetzt um seine Gehfähigkeit. Sebastian Steinbichler sprach mit Reinhold Messner über den Berg, den Sturz und die Wahrheit.

taz: Reinhold, ist es Ihnen peinlich, nach all den Jahren der Extremleistungen ausgerechnet an einer Hausmauer zu scheitern?

Reinhold Messner: Nein, überhaupt nicht. Mein Fehler war, daß ich die Schwierigkeit der Mauer, das nasse Moos und die Dunkelheit unterschätzt habe. Die Häme, die deswegen verbreitet wurde, ist mir egal, weil von hunderttausend deutschen Durchschnittsbürgern ohnehin keiner über diese Mauer kommen würde. Was mich wirklich trifft, ist die Verletzung und die Aussicht, vielleicht nie mehr richtig gehen zu können. Für mich wäre es natürlich logischer gewesen, mir die Ferse am Mount Everest oder am Nordpol zu zerschmettern, aber das hätte ich nicht überlebt. Bei meinen Expeditionen, das zeigt mein Überleben, bin ich in einem helleren Wachzustand und viel vorsichtiger als beim Überklettern meiner eigenen Burgmauer.

Wie ist es denn passiert?

Sabine (Messner Freundin, Anmerkung der Redaktion), meine Tochter und ich waren mit Jauchs zum Abendessen, und ich hatte zwei Leuten die Schlüssel überlassen. Als wir nachts zurückkamen, regnete es, der Castellan in der Burg schlief schon tief, und der andere war nicht zu Hause. Es war kein Schlüssel da.

Ich stieg dann an die hintere Seite der Burg und kletterte an der Stelle, wo es am einfachsten ist, die Mauer hinauf. Beim Hinunterklettern in den Innenhof rutschte ich mit der Hand ab und stürzte ungefähr vier Meter in den felsigen Innenhof auf einen Felsen. Das hat mich das Fersenbein gekostet.

Sie ordnen in Ihren Büchern Vorgänge meist in einen größeren Zusammenhang ein. Hat der Sturz eine Bedeutung?

Ich gebe dem Sturz keine schicksalhafte oder gar esoterische Bedeutung. An Schicksal glaube ich nicht – obwohl es in diesem Fall interessante Zusammenhänge gibt, von denen ich bisher noch nicht erzählt habe. Zwei Tage vor dem Sturz kam ich von einer Expedition auf den Berg Belucha im Altai-Gebirge zurück (Bergkette in der Mongolischen Volksrepublik, Anmerkung der Redaktion), der heilig ist und den die Einheimischen nicht gerne bestiegen sehen. Nach der Besteigung hatten alle vier Teilnehmer, zwei Kameraleute, meine Frau und ich, seltsam dramatische Momente zu bestehen. Meine Frau hat sich beim Abstieg vom Gipfel eine Sehne angerissen, die beiden anderen sind in ihrem privaten Leben sehr stark gebeutelt worden, und ich fiel von der Mauer. Ich könnte sagen, die Rache des Heiligen Berges hat uns alle eingeholt.

Im Kampf gegen die Biologie haben Sie die körperlichen Grenzen immer weiter hinausgeschoben. War das jetzt der Fingerzeig „Reinhold, hör auf“?

Es ist wahr, daß ich in den letzten Jahren immer mehr in Zeitzwang geraten bin, aber ich habe clevererweise lange Zeit dann nicht mehr die Grenze im jeweiligen Metier hinausgeschoben, sondern unterbewußt immer wieder in anderen Feldern versucht, an die Grenze zu kommen. Ich wollte noch einige Jahre weitermachen, weil noch einige Steinchen im Mosaik der Möglichkeiten fehlten. Nun wurde ich im Frühjahr am Nordpol dramatisch unterbrochen, weil sich unter unseren Hintern innerhalb weniger Stunden eine Fläche so groß wie Südtirol zu null zusammengeschoben hatte. Das war aber kein Fingerzeig, sondern Ansporn, eine völlig neue Logistik zu entwickeln, die ich dann einem zweiten Versuch zugrunde gelegt hätte. Das ist jetzt aber nicht mehr denkbar.

Wie soll es denn nun weitergehen?

Nach dem Herunterfallen war mir klar, daß dies das Ende meines bisherigen Lebens sein könnte. Ich habe schon einmal, 1970 am Nanga Parbat, ein zweites Leben begonnen, als ich mir dort die Zehen abfror und das Sterben näherungsweise erlebt habe. Ich werde nun eben mein drittes Leben anfangen. Für die nächsten Monate habe ich mich den Ärzten übergeben, da zunächst der Fuß gerettet werden muß, mit dem ich wieder gehen und schmerzfrei bis ans Ende der Welt laufen will – vielleicht schon an Weihnachten.

Mein Klettervermögen ist das Unwichtigste, ich muß nicht mehr in die Senkrechte oder auf die höchsten Berge der Welt, das liegt hinter mir. Wenn das klappt und mein Geist eine befriedigende Betätigung findet, kann ich mir ein Leben ohne Grenzgänge theoretisch vorstellen, denn die wesentlichen Arbeiten habe ich alle noch vor mir.

Ist der streunende „wilde Hund“ Messner jetzt domestiziert, und kann Ihre Familie aufatmen, weil Sie ans Haus gekettet sind?

Meine Familie fühlt sich mir jetzt näher, aber sie ist schon seit geraumer Zeit in das Zentrum meines Lebens gerückt. Leider hat das die Außenwelt nicht so wahrgenommen. Es war in meinen Augen sehr wichtig, daß sie bei dem Unfall dabei war und mich als hilflosen, völlig verdreckt auf Händen und Hintern kriechenden Menschen erlebt hat. Das hat plötzlich, an einer Bagatelle, die Gefährlichkeit meines Lebens klargemacht. Ein Kinderspiel ist eben nichts, auch eine glitschige, vier Meter hohe Mauer nicht. Aber umgekehrt bin ich auch ein Grenzgänger geblieben, sonst wäre ich nicht mehr ich, und ich werde, sobald ich gehen kann, wieder aufbrechen.

Sind Sie bei diesem Unfall zum ersten Mal Zeuge Ihrer Hilflosigkeit geworden?

In den Medien bin ich der Berserker am Ende der Welt, der nie aufgibt. Das ist völlig schräg, denn ich habe in meinen Büchern immer von Angst, Hilflosigkeit und Zweifeln am eigenen Tun geschrieben. Die Leute haben das überlesen, weil es schlicht nicht ihrem Wunschdenken entspricht.

Sind Sie denn nicht der wilde, mutige Reinhold aus Stahl und Eisen?

Ich bin in keiner Weise ein mutiger Mann. Mut hat kein Maß, ist aber nach meinem Dafürhalten nur die andere Hälfte der Angst. Die Kunst beim Grenzgänger liegt wohl darin, daß er diese unteilbare Einheit im Gleichgewicht hält. Ich hatte immer ein ausgeprägtes Gespür für dieses Gleichgewicht, deswegen habe ich überlebt. Das ist ein großer Vorteil.