Die Passagiere hasten weiter

Paris nach der neuen Bombe: Wenn jemand aus der Metro aussteigt, treffen sich die Blicke der anderen Fahrgäste auf, neben und unter seinem Sitz  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Natürlich bin ich unruhig“, sagt die Dame aus der Vorstadt am Bahnhof Saint Lazare, „aber was soll ich tun? Ich muß mit der Metro fahren. Ich arbeite doch in Paris.“ Zwei Stunden sind seit dem Bombenattentat zwischen den Stationen Musée d'Orsay und Saint Michel vergangen, und die Pariser U-Bahn ist so voll wie immer um 9 Uhr morgens.

Ein Streckenabschnitt der Vorortbahn „RER-C“, in der die Gasflasche explodierte, ist noch gesperrt. Lautsprecherdurchsagen in den Umsteigebahnhöfen weisen auf den „großen Unfall“ hin. Handgeschriebene Schilder erklären die Möglichkeiten, auf andere Strecken auszuweichen.

„Schauen Sie um sich, informieren Sie unser Personal über unbegleitete Gepäckstücke“, mahnt die Durchsagerin an Denfert Rochereau im Süden der Stadt. In den gekachelten unterirdischen Verbindungswegen und -treppen zwischen den drei Linien, die sich hier kreuzen, verzerrt das Echo ihre Stimme. Die Passagiere hasten weiter. Niemand horcht auf, um Einzelheiten zu verstehen.

„Natürlich weiß ich seit dem Aufstehen, daß es ein Attentat gegeben hat in Paris“, sagt ein älterer Mann resigniert. Er hat damit gerechnet, daß die Terrorserie weitergehen würde. Die Bombe vom vorvergangenen Freitag in der Nähe der Pariser Metrostation Maison Blanche war schließlich ein deutliches Zeichen.

Sie explodierte zur gleichen Zeit, als der 24jährige Khaled Kelkal aus der Lyoner Banlieue beerdigt wurde. Ihm wird zumindest ein Attentat dieses Sommers zur Last gelegt – nach tagelanger Jagd war er von der Polizei erschossen worden. Der südostfranzösische Todesort Kelkals, der wochenlang der meistgesuchte Mann Frankreichs gewesen war, trägt wie die Metrostation den Namen Maison Blanche.

„Aus Sicherheitsgründen“ hat die Stadt Paris schon vor Wochen Zehntausende von Papierkörben versiegelt. Die Aufkleber, die um Verständnis der Bürger bitten und zu Sauberkeit mahnen, sind vielerorts zerrissen. Unter den runden und eckigen Behältnissen stapelt sich der Müll.

In der Linie 11 der Metro herrscht Schweigen – das übliche Metro-Schweigen. Köpfe stecken hinter Illustrierten. Wenn jemand aussteigt, treffen sich die Blicke der hinterbliebenen Passagiere auf und unter seinem Sitz. Kurz vor der Endstation ChÛtelet knallt die Sitzfläche eines Hockers zurück. Ein paar Passagiere im Waggon zucken kurz. Niemand sagt etwas.

„Chirac sollte Zéroual nicht treffen“, schimpft ein junger Mann aus der östlichen Vorstadt. Das Treffen zwischen dem französischen und dem algerischen Präsidenten ist zwischen dem 22. und 24. Oktober in New York geplant – zeitgleich mit dem Auftakt des Präsidentschaftswahlkampfes in Algerien, der von den meisten Oppositionellen boykottiert wird. Seit der Elysée-Palast die Sache vor wenigen Tagen angekündigt hat, drohen die „Bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA) mit weiteren Attentaten in Frankreich. „Wir lassen uns unsere Politik nicht von Terroristen diktieren“, heißt es aus der Umgebung Chiracs.

Um 11 Uhr vormittags ist der Platz Saint Michel wieder für den Autoverkehr geöffnet. Polizisten der CRS patrouillieren paarweise. Am gesperrten RER-C-Eingang kontrollieren sie die Papiere eines Mannes „maghrebinischen Typs“. An dieser Station hatte die Attentatsserie am 25. Juli mit einer Bombe im RER-B begonnen. Sieben Menschen kamen ums Leben, Dutzende wurden schwer verletzt.

Das neue Attentat – das achte – fand nur ein paar hundert Meter entfernt statt. Dieses Mal ging die Bombe mitten im Tunnel hoch. Der zweite Waggon des Zuges riß seitlich auf. Wieder befand sich der Sprengstoff in einer Campinggasflasche, wieder war sie unter einem Sitz deponiert, wieder war der Explosion eine dichte Rauchwolke gefolgt, und wieder gab es kein Bekennerschreiben.

Mindestens 28 Menschen wurden bei dem gestrigen Anschlag verletzt, darunter fünf schwer. Die körperlich unversehrten Passagiere wurden durch den Tunnel zu Fuß zurück zum Musée d'Orsay geleitet, der letzten Station vor der Explosion.

In der Vorhalle des Museums richteten die Rettungsarbeiter ein Notlazarett ein. Bis mittags sind auch dort die Absperrungen verschwunden. Die Schaulustigen haben sich verstreut.