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Wer die Minute nicht ehrt

Schlendrian, Umstellungschaos, Personalabbau, kaputte Züge und Baustellen – die Verspätungsorgie der Deutschen Bahn AG hat viele Ursachen  ■ Von Florian Marten

Hamburg (taz) – „Wir haben die Achtung vor der Minute verloren“ – Klaus Nötzold, Chefplaner der Deutschen Bahn AG für den Regionalverkehr in Schleswig-Holstein, legt den Finger in eine Wunde der deutschen Bahn: „Heute gibt es am Faktum eines inzwischen auch im europäischen Maßstab bedenklichen Unpünktlichkeitsprofils der Deutschen Bahn keine Zweifel mehr: Jeder dritte Intercity kommt zu spät.“

Wo sind preußisch-militärische Tradition und Präzisionsdenken der Deutschen Eisenbahn geblieben? Die Pünktlichkeitsquote sackte von einst über 90 auf gerade noch 75 Prozent. In Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein ist kaum etwas so sicher wie die regelmäßige Verspätung praktisch jeder Bahnverbindung. Aufgeschreckt durch einen „Panorama“- Bericht, der sich auf bahninterne Verspätungsprotokolle stützte, weicht jetzt auch die DB AG von ihrer bisherigen Beschwichtigungstaktik ab. Bahnsprecherin Christine Geisler-Schild: „Wir haben in der Tat zur Zeit Schwierigkeiten mit unserer Pünktlichkeit.“

Die Hinweise auf die tieferen Ursachen gehen jedoch weit auseinander. Geisler-Schild: „Wir haben eine ganze Reihe von Problemen.“ Norbert Hansen, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft deutscher Eisenbahner (GdED): „Da kommt einiges zusammen.“ Klaus Nötzold: „Da überlagern sich viele Effekte.“

Aber welche? Die DB-Sprecherin sieht, ganz marketinggestählt, das Problem vor allem außerhalb. Ob Streiks im Ausland, Selbstmordkandidaten allüberall auf den Schienen oder gar Wessi-Dummheit („Berlin-Lichtenberg haben wir noch nicht genug in die Köpfe unserer westdeutschen Reisenden gebracht“). „Wir fahren eben viel und sind dabei gar nicht so schlecht – „wir fahren nicht immer unpünktlich.“

Aber immer öfter. Gewerkschafter Hansen entdeckt auch hausgemachte Probleme: Die DB habe aus ihrer Zeit als „Behördenbahn“ einen enormen „Investitionsrückstand“ und hinke allein in der technischen Organisation des Betriebsablaufs deutlich hinter Ländern wie Frankreich, Schweden oder Japan hinterher. „Die Mehrzahl der Stellwerke wird noch mechanisch bedient, es gibt kaum Möglichkeiten, von Schaltzentralen direkt in die Fahrt der Züge einzugreifen, in den großen Bahnknoten wird der Umgang mit Verspätungen zumeist immer noch von Disponenten per Hand erledigt. Dabei, erläutert Klaus Nötzold, sind die technischen Systeme für einen anderen Zugbetrieb längst entwickelt: Die Ausrüstung von Loks, Stellwerken, Signalen und Leitzentralen vorausgesetzt, könnte moderne EDV längst ein Netzmanagement betreiben, welches Züge gezielt abbremst oder beschleunigt, um die gefürchtete Kettenreaktion von Verspätungen zu verhindern. Eine schlichte Variante dieser Technik ist in Hannover im Einsatz: Dort unterstützt seit einigen Jahren ein Rechnersystem die Disponenten. Das System hat die Verspätungen im norddeutschen Bahnknoten verringern können.

Doch auch die Technik hat ihre Tücken: Gerade weil die DB AG jetzt im Hauruckverfahren ihren Rückstand aufzuholen versucht, entstehen neue Probleme. Das vollautomatische Stellwerk in Hamburg-Altona beispielsweise war ohne ein mechanisches Notsystem und nach viel zu kurzer Vorbereitungszeit eingeführt worden.

Zu viele Zuständigkeiten und zuwenig Personal

„Probleme gibt es aber auch beim Faktor Mensch“, beklagt Norbert Hansen. Durch den gewaltigen Rationalisierungsdruck – die Bahn will bis 1999 ihr Personal auf gut 150.000 Menschen herunterbeamen (1989 waren es noch 450.000) – hat die DB ihre Personalschlüssel vielerorts zu knapp bemessen. Ganze Züge sind schon stehengeblieben, weil bei Personlausfällen kein Ersatz vorhanden war.

Wenn aber Züge schon am Ausgangsbahnhof mit 15 Minuten Verspätung abfahren, liegt das nicht nur an Personalknappheit. „Weit häufiger“, betont Klaus Nötzold, „ist das rollende Material schuld“. Sogar Geisler-Schild räumt ein: „Wir haben zum Großteil veraltetes Material.“ Doch Hoffnung naht: Für rund 10 Milliarden Mark hat die DB neue Loks, Triebwagen und Waggons für die Jahrtausendwende bestellt. Schon vorher freilich will Klaus Nötzold die Bahn zumindest in Schleswig-Holstein wieder pünktlich fahren sehen. Für ihn steht dabei die innere Organisation im Vordergrund: „Die Aufteilung in verschiedene Divisionen hat zu furchtbar vielen Verantwortlichkeiten geführt.“ Herrschte auf einem Bahnhof früher uneingeschränkt der Bahnhofsvorsteher, so teilen sich jetzt die „Division Netz“ und die „Division Personenbahnhöfe“ die Macht. Die neuen Strukturen haben sich noch nicht eingespielt. Nötzold: „An den Schnittstellen hapert es noch.“ Ein typisches Querschnittsproblem wie Pünktlichkeit, an dem unter anderem auch noch das Baustellenmanagement und die Fahrplanbastler mitmischen, fällt durch die Maschen. Laut Nötzold war die Fahrplangestaltung viel zu ehrgeizig: Statt die vorgeschriebenen fünf Prozent Fahrzeitreserve einzuplanen, bei Baustellen die Fahrpläne rechtzeitig zu ändern und in den Umsteigeknoten mehr Luft zwischen den Anschlüssen zu lassen, habe die DB ihre Verbindungen schneller aussehen lassen wollen, als die Schienenwirklichkeit es zuließ.

Aber auch am Zug selbst muß sich etwas ändern: „Wenn der Zeiger auf die Abfahrtsminute springt, muß der losfahren. Dann trink' ich meinen Kaffee eben später aus.“ Der Preuße in Nötzold sieht einen Verfall der Pünktlichkeitsmoral, „die in den letzten drei Jahren erheblich nachgelassen hat“. Dies will er nun, zumindest in Schleswig-Holstein, ändern: „Ich blase jeden an, den ich erwische.“

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