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■ Im einstigen Zentrum der Revolution heißt die schöne neue Welt, für die gekämpft wurde, nur noch gute FormKreuzberger Szenen

The good old boys treffen sich zum Kreuzberger Herrenabend. Kreuzberg. Ich weiß noch, wie ich diesen rußigen Krater des Nachkrieges zum ersten Mal betreten habe. Schwere Reisebusse aus Wessiland kreuzten um die bröckelnden Kasernen der Jahrhundertwende. Bürgerkriegstouristen glotzten furchtsam aus dem mobilen Aquarium zu den weißen Fahnen der Hausbesetzer in den schwarzen Fensterhöhlen. Höhlenfurcht bei der Suche nach dem verlorenen Bruder. Unter einer der Wohngemeinschaften, in der ich ihn auftrieb, lag das zum Trottoir vergitterte RAF-Kellergefängnis von CDU-Lorenz. „Umfeld“ schimpfte man das diffuse Milieu damals.

Seine Insassen sind heute mittelalte Männer, an denen der Epochenumschlag zu nagen beginnt. Die Fassaden dieser Gemeinschaft fragloser Übereinkunft wurden so sorgsam geliftet wie die einst unentrinnbar gemauerte Blockzeit draußen und zergrauen nun doch so unaufhaltsam, wie sie zerfällt. Nur das fahle, grüne Neonkreuz der Freikirchler überstand den Epochenstrudel unverändert. Hoch ragt es in den Kiezhimmel über dem türkischen Gemüsediscount in dem Mietblock in der Bergmannstraße. Früher eine dunkle Meile aus Pfandleihe und Epochentrödel, quirlt der Multikultilaufsteg inzwischen lichtbesoffen wie nach einem zu tiefen Schluck Zivilisationsaufheller.

Aus dem Bodensatz einer ortlosen sprießt nun die Gründerzeit der Dritten Republik: Sozialarbeit und Germanistik verwandelten sich zu Wein, Teppichen, Taxi und Software. Der Markt kehrte zurück, die kritische Aufklärung verschwamm zur Händlermentalität. Eine harte Pokerhand wäscht die andere. Man weiß schließlich, woher man kommt. Aber die rauhen Zeiten sind vorbei.

Balkon an Balkon mit dem BVG-Rentner, sorgt man sich um die Bepflanzung: Männertreu und/ oder Fleißiges Lieschen? Die anarchische Flucht hat die kleinbürgerliche immer nur zugedeckt. Endziel Schrebergarten. „Das wär's, wenn man die Tomaten aus dem eigenen Garten gegenüber holen könnte“, schwärmt der Balkonkamerad. Drinnen ruft die Hausfrau freundlich zum Abendbrot. Irgendwo zwischen Handy und Alessi gammelt der Boykottaufruf von „Ton, Steine, Scherben“, in dem Rio Reiser mit „Nee, nee, nee, eher brennt die BVG“ dem Staat heiseren Abschied gebellt hatte. Prösterchen!

Ein juveniles Relikt hält den Herrenabend in gebügelten T-Shirts aber immer noch in Bewegung: Fußball. Da beginnt der Blick in den neuesten Hi-Fi-Mattlack noch einmal nervös zu flackern. Politik erntet nur ein müdes Lächeln.

Häuserkampf mit SPD-Bausenatoren? WG-Kriege um versiffte Römertöpfe, ölig zerlegte Motorräder im Hochbett und illegale Mitbewohner, die nie einer zu Gesicht bekommen durfte? Das haben wir hinter uns. „Wir sind keine WG!“ wehrt einer der Kameraden gereizt ab, die alten Gruppenzwänge über die neuen Isolierzeiten zu retten. Jemand wollte die kleine Kolonie der Behaglichkeit zur „dezentralen Familie“ erklären. „Ist schon schöner, wenn man für sich ist“, gesteht er mir in der milden Kreuzberger Abendsonne die Vorzüge eines Balkons ganz ohne hellhörige Trennwand zum Nachbarn. Kurz vor Tisch schimpfte er über die Abendschau-Bilder von der Kurdendemo, durch die mittags nicht durchzukommen war. Der Kiezbürger als Abstandhalter.

Früher fraß der alles oder nichts. Hatte utopischen Hunger. Heute erschüttern kulinarische Revolten die Gaumenknospen. Wenigstens zur Geschmacksgemeinschaft hat man sich befreit. Gegessen wird jetzt wenig, aber erlesen. Carpaccio zum Frühstück. Kaffee, italienische Spitzenweine, Öl, Essig, Grappa und importierte Fettucine: „Gaaanz leicht mit Lachs unterhoben“, spitzt mir ein Kamerad genüßlich Zeigefinger und Daumen zum Feinschmeckerkniff. Das Bier aus dunkleren Kreuzberger Kneipennächten, wo man die Ratten im Keller noch selber schoß, ist heute nobel rustikal. Statt zu einigen Hektoliterchen in „Habakuks Gartenlaube“ oder der verflossenen „Slainte“ in der totesten Sackgasse des Westens in der Oranienstraße geht es ins Café „Lebensart“ oder zu „Slobo's“: Original Wiener Schnitzel, hauchdünn paniert, die Wände von falschen Art-deco-Opferschalen angeflammt. Zwei, drei Schluck Rechsteiner. Secco, secco!

Früher Nomaden aus Überzeugung, sammeln sich die Kiezbürger jetzt um Lederpolster, Stahlgesänge und ökologische Kokosläufer. Versackten Hab und Gut einst im Treibsand der Wohngemeinschaften zwischen Chamisso- und Mariannenplatz, errichten sie heute feste Stützpunkte. Ebenholzschwarze Regale ersetzten die windschiefen Ytong-Türme. Zwischen futuristischen Flaschenöffnern und Kristallgläsern steht Charley Schumans rotledernes Longdrink-Brevier „American Bar“ samt Chromargan-Shaker. In einer Regalecke verstaubt ein abgegriffener Bakunin-Schmöker neben Italo Calvinos „Ein Mann wird älter“. Der binäre Code der zwei Welten, das flammende Schwarzrot des Che-Guevara-Posters hat sich in das sphärische Pastell eines gerahmten Kandinsky verflüchtigt. Feierabends, auf der Bauhaus-Couch, erprobt man die neugewonnene ästhetische Urteilskraft in „Limitiert“ – der Zeitschrift für „Menschen, die unterscheiden wollen“ – an Designerstühlen und Unterwäsche. Die schöne neue Welt heißt nur noch gute Form.

Sonntags zeigt man sich in Flanier- statt in Protestöffentlichkeit. Ein paar versprengte Schwarzhemden rufen zum „Nie-wieder- Deutschland“-Frühstück in einer Uferkneipe. Doch die Kameraden sind schon zum Pferderennen im Hoppegarten. Oder suchen nach Schnäppchen Ost auf dem Markt von Werder. Die Herren: bauchbereite Konsumpapageien, bunte Parvenüs mit breiten Revers, spitzen Schuhen und goldenen Schlipsnadeln, ein Siegerlächeln im Anschlag. Die Damen: versuchsweise mondän mit großen Hüten und geschwungenen Sonnenbrillen, sind ein bißchen jünger, puppig; zwar ein bißchen hübscher, aber auch ein bißchen zweite Reihe.

Nach dem „Tatort“ geht man noch auf ein gepflegtes Weizen. Eine träge Soiree mit Aufprallschutz und automatischer Verriegelung. Aber in Jeans. Aber wohin? Nach drüben? „Nee, bloß nich' Ossiland! Trauerland. Kannste mich mit jagen. Was willste in der kaputten Kulisse? Findste nich mal mit 'nem Auto hin.“

Montags dann wieder Teppiche. Ingo Arend

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