piwik no script img

Nelken, Bratwurst und zum ersten Mal Randale

■ Zehntausende ehrten Luxemburg und Liebknecht in Friedrichsfelde

„Das ist ja grausam“, schimpft eine weißhaarige alte Dame. „Können die nicht alleine laufen!“ Vorwurfsvoll blickt sie auf die vielen Fotografen und Kamerateams, die der PDS-Delegation beim Niederlegen ihrer Kränze für die Sozialistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auf die Pelle rücken und Gebinde und Blumen niedertrampeln. Nach einem kurzen Gang um die kreisrunde Grabstätte mit dem Grabstein „Die Toten mahnen uns“, in der auch Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck liegen, verläßt die Parteispitze mit Modrow, Bisky, Gysi, Pau und Marquardt die Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde.

Wie schon in den vergangenen Jahren kamen auch gestern Zehntausende Demonstranten mit roten Nelken und gedachten bei Minusgraden der Ermordung der Sozialistenführer vor 77 Jahren. Das Gelände vor dem Friedhof glich einem Jahrmarkt. Neben Bratwurst und Glühwein wurden FDJ- und Pionierhemden und Liebknecht- und Luxemburg-Anstecker zum Verkauf angeboten, Komitees wie das „Insiderkomitee zur Aufarbeitung der Geschichte des MfS“ und das „Nationalkomitee Freie DDR“ waren vertreten. „Karl und Rosa waren die bedeutendsten Linken in Deutschland“, sagt ein 52jähriger Mann aus Marzahn, dem es seit 33 Jahren jeden zweiten Sonntag im Januar „ein Bedürfnis ist“, die Sozialistenführer zu ehren.

Doch unter den Demonstranten ist einer, der noch ein Jahr länger dabei ist: Egon Krenz, letzter DDR-Staatsratsvorsitzender. Damals sei das Gedenken „organisierter“ gewesen, sagt Krenz zur taz, jetzt sei es „spontaner“ und deshalb „viel wertvoller“. Es sei „bedrückend, daß die Sache, für die Luxemburg und Liebknecht gestritten haben und die wir realisieren wollten, so zusammengebrochen ist“. Um Krenz bilden sich im Gegensatz zur PDS-Delegation keine Menschentrauben. Ab und an werden ihm aufmunternde Worte für die heute beginnende Zweitauflage im Prozeß gegen ihn und andere Politbüromitglieder wegen der Mauerschüsse zugerufen: „Egon, zeig's ihnen“ oder „Bleib standhaft!“. Jeder Zuruf und jede Person, die sich Krenz nähert, wird von Gestalten mit Kameras registriert. Eine 61jährige Frau aus Friedrichshain wünscht sich, „daß der Sozialismus als Endziel nicht vergessen wird“. Sie freut sich, daß viele junge Leute „freiwillig und nicht verordnet“ gekommen sind. Eine 17jährige Schülerin aus Lichtenberg verbindet mit der Ehrung „ein Zuhause-Gefühl“. Für zwei Schülerinnen aus Marzahn ist der jährliche Gang zum Friedhof eine „Ehrenpflicht“.

Nach Augenzeugenberichten kam es am Rande der Demonstration gestern erstmals zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei und mehreren Festnahmen. Etwa dreißig Beamte hätten die Aufführung eines Theaterstückes der Göttinger „Antifa M“ verhindert und „gezielt auf ältere Demonstranten eingeschlagen“, so der PDS-Abgeordnete Freke Over. Zuvor habe die Polizei einen Stand der „Föderation der demokratischen Arbeitervereine aus der Türkei in Deutschland“ zerstört. Nach Angaben der AG „Autonome Gruppen in und bei der PDS“ habe eine „einzelne Fahne“ der verbotenen Nationalen Befreiungsfront Kurdistans für „permanente Angriffe“ der Polizei geführt, bei denen mehrere Demonstranten verletzt und festgenommen wurden. Die Polizei meldete mehrere verletzte Beamte. Barbara Bollwahn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen