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Vorsicht! „Die Häuser werden angezündet“

■ Bürgerkriegsstimmung und Erkenntnisse des Verfassungsschutzes im Vorfeld der Demonstration. Doch die Schlacht um das Atomkraftwerk fand nicht statt

Es war lausig kalt an jenem 28. Februar 1981 in der Wilstermarsch. Acht Grad minus zeigte das Thermometer. Trotz Kälte, Polizeisperren und Demonstrationsverbot waren 100.000 stark vermummte AKW-Gegner gekommen. Deutschland erlebte seine größte Demonstration gegen ein Atomkraftwerk. Die taz fand's großartig: „Zum ersten Mal seit 1933 haben 100.000 Deutsche gemeinsam, offen und bewußt ein staatliches Verbot übertreten.“ Und weiter hieß es mit revolutionärem Entzücken: „Wenn Stoltenberg nur noch ein Name ist, der für eine Erderhebung in Schleswig- Holstein gehalten wird, dann werden die 100.000 ihren Platz in der Geschichte haben.“

So kalt wie es in der Wilstermarsch war, so heiß waren die Tage davor. Auf dem Hamburger SPD-Sonderparteitag hatten sich die Genossen mit 198 zu 157 Stimmen gegen eine Beteiligung an dem AKW ausgesprochen. Das blieb denn auch die einzig gute Nachricht im Vorfeld. Eine bis heute beispiellose Hetzkampagne begann. „Kein Tag“, resumierte die taz, „an dem nicht die Atomgegner vor Gewalttätern, kommunistischen Berufsdemonstranten, militanten Chaoten und kriminellen Anarchisten in ihren Reihen gewarnt werden.“

Die Welt: „Der SPD sitzt die Angst im Nacken, nachdem sich Hinweise verdichten, daß die Chaoten bei den Protestaktionen auch Tote in Kauf nehmen.“

Ministerpräsident Stoltenberg in Bild: „Leute in der Wilster Marsch werden mit ganz brutalen Methoden in Angst versetzt. Es gibt Fälle persönlicher Bedrohung. Zum Teil auf das Haus und den Hof. Es gibt anonyme Anrufe bei einzelnen Leuten, sie sollen ihr Vieh auf die Weide treiben, denn die Häuser würden angezündet.“

Die Kieler Nachrichten zitieren „Sicherheitsbehörden“: Die Demonstranten würden „mit Stahlkugeln und Molotow-Cocktails in bisher unbekannter Brutalität vorgehen, so daß Polizisten getötet werden können“.

Am 18. Februar kündigt die Kieler Landesregierung die zweite Teilgenehmigung für das Atomkraftwerk an, der Bau kann beginnen. Am 22. Februar verfügt der Steinburger Landrat Helmut Brümmer ein totales Demonstrationsverbot in der Wilster Marsch. „Landrat bleibe hart“, ruft ihm die Zeit ungewohnt kämpferisch zu. Vergeblich. Die Mobilisierung läuft bundesweit, die „Landplage der Bürgerinitiativen“ (FAZ) ordert Busse und Konvois.

Doch die Anfahrt nach Brokdorf wird zur Schikane, überall stehen Polizeisperren. Nur die DDR- Zöllner fertigen die Berliner Demonstranten grinsend und ungewohnt großzügig ab. Im württembergischen Weinsberg wissen sich die Demonstranten zu helfen. Sie schrauben auf einem gut einsehbaren Autobahn-Teilstück die Leitplanken auf dem Mittelstreifen ab und fahren – hallo Geisterfahrer! – auf der gegenüberliegenden Fahrbahn an der Polizeisperre vorbei.

100.000 erreichen Brokdorf. Doch die Schlacht um das Atomkraftwerk findet trotz der hochgeputschten Stimmung nicht statt. Es kommt zu heftigen Scharmützeln am Bauzaun, aber die Festung bleibt uneinnehmbar. Auf dem Rückzug erleben die Demonstranten dann eine böse Überraschung. Polizei-Hubschrauber attackieren die letzten abziehenden Gruppen im Tiefflug, kesseln einzelne Demonstranten zwischen den Wassergräben ein und holen den Knüppel aus dem Sack. Bilanz einer Demo: 240 Festnahmen, ungezählte verletzte Demonstranten und Polizisten.

Am Donnerstag danach veröffentlicht der Stern das berühmte Foto im Wassergraben. Drei Demonstranten schlagen einen Polizisten. Die bundesweite Fahndung läuft an, die drei Täter werden wegen „Mordversuch“ gesucht, zwei Beschuldigte – Markus Mohr und Michael Duffke – später verurteilt. Brokdorf im Februar 1981: „Ich kann mich nicht erinnern, mir irgendwann in den letzten Jahren derart den Arsch abgefroren zu haben“, resumiert die taz.

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