: Wieder auf Europakurs
Jacques Chirac wird in Turin zusammen mit Kohl wieder „Motor“ der EU spielen. Seine Themen: Neuer Sozialpakt und die Währungsunion ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Am liebsten wäre Jacques Chirac überhaupt nicht nach Turin gefahren. Er habe am 29. März etwas anderes vor, ließ er seine italienischen Kollegen vor einigen Monaten wissen. Inzwischen hat sich Frankreichs Präsident anders entschieden.
„Um nicht als einziger aus der Reihe zu scheren“, wie seine Mitarbeiter sagen, nimmt er nun doch persönlich an der Regierungskonferenz teil. Eine besondere Erwartung an das Treffen hegt er aber nicht. Es sei bloß ein Auftakt, bei dem die Wünsche der einzelnen Teilnehmer auf den Tisch gepackt würden. Was letztlich möglich und machbar sei, könne sich erst bei den Verhandlungen in den kommenden Monaten zeigen, heißt es im Elysee-Palast betont bescheiden.
Der Präsident, der in seinem Wahlkampf vor gut einem Jahr zum Entsetzen seiner europäischen Partner andeutete, er wolle ein neuerliches Referendum vor dem Eintritt in die Währungsunion abhalten, äußert sich inzwischen positiver zu den gemeinsamen Projekten. Er betont seine Absicht, den währungspolitischen Fahrplan einzuhalten, die Konvergenzkriterien buchstabengetreu zu respektieren, den politischen Ausbau der Union fortzuführen und den deutsch-französischen „Motor“ der EU weiterhin laufen zu lassen.
Seit den über dreiwöchigen Streiks im vergangenen Dezember denkt er zusätzlich laut über die „soziale Komponente“ in Europa nach. Chirac kündigte gestern in einem Beitrag für die französische Tageszeitung Liberation eine Initiative für einen Sozialpakt in der EU an. Sie soll den Unionspartnern in den kommenden Tagen dargelegt werden.
Die Regierungen in Frankreich und Deutschland wollen beide eine institutionelle Reform, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik und eine engere Zusammenarbeit von Polizei und Justiz. Ihre weitgehende Übereinstimmung haben die Außenminister noch vor wenigen Wochen bei einem Arbeitstreffen bestätigt. Die französischen Besonderheiten verbergen sich im Detail. Unter anderem ist Paris nicht bereit, das Europaparlament an der Regierungskonferenz zu beteiligen, wo es nach deutschem Wunsch unter anderem um eine Aufwertung dieser Institution geht.
Hinter den proeuropäischen Absichtserklärungen der französischen Regierungsspitze verbergen sich handfeste Zweifel an der in Maastricht festgelegten Marschroute – sowohl bei der Währungsunion als auch bei der Regierungskonferenz. Noch vor wenigen Wochen löste der liberal-konservative Giscard d'Estaing mit seinem Vorschlag, die Konvergenzkriterien abzumildern und den Realitäten anzupassen, einen Schneeballeffekt aus. Selbst Außenminister Hervé de Charette mochte nicht ausschließen, daß dies möglich sei.
Inzwischen ist in der Währungsfrage wieder Disziplin in die konservativen französischen Reihen zurückgekehrt. Die Arbeitgeberorganisation CNPF erklärte in der vergangenen Woche in einem europäischen Grundsatzpapier, daß die Währungsunion unbedingt wie geplant eingehalten werden müsse – für Europa sei sie die einzige Möglichkeit, zwischen Yen und US-Dollar zu bestehen. Zusätzlich müsse die gemeinsame Wirtschaftspolitik durch Mehrheitsentscheidungen in Europa gestärkt werden. Ins selbe Horn wie die CNPF stößt die „Banque de France“, die erst seit einem guten Jahr politisch unabhängig ist. Die Banker pochen vor allem auf die radikale Senkung des Defizits im Staatshaushalt. Auf der Linken ist die kommunistische Partei ihrer strikten Gegnerschaft – „Diktat der Bundesbank“ – treu geblieben. Die sozialistische Partei hat sich halbherzig zum Euro bekannt. PS-Chef Lionel Jospin sagt: „Wir können auch ohne leben.“
Die politische Debatte im Vorfeld von Turin zeigte, wie gering gegenwärtig das französische Interesse an der europäischen Integration ist. Selbst die europäischste der Parteien des konservativen Regierungsbündnisses, die UDF, mobiliserte in der vergangenen Woche nur eine Handvoll Parlamentarier zu ihrem Vorbereitungstreffen mit dem passenden Titel: „Ist Europa ein Tabu geworden?“
Die größere Regierungspartei, die von Chirac gegründete neogaullistische Bewegung RPR, ist entschieden widersprüchlicher. Ihr Spektrum reicht bis zu Politikern, die schon 1992 beim Referendum über die Maastrichter Verträge für ein „Nein“ Stimmung machten. Auch wenn die Europafreunde in der RPR gegenwärtig Oberwasser haben, spiegeln die Diskussionen über die Regierungskonferenz in Turin die tiefsitzenden Ängste der Franzosen vor einem Verlust der nationalen Souveränität. Der RPR-Spitzenpolitiker und Präsident des französischen Parlaments, Philippe Seguin, will die Rolle der nationalen Parlamente stärken, sein Kollege Pierre Mazeaud möchte die Macht des Europäischen Gerichtshofes beschneiden, und einer seiner energischen jüngeren Kollegen, Pierre Lellouche, wollte in einem – inzwischen von der RPR abgelehnten – Vorschlag sicherheitshalber den Vorsitz in der Europäischen Union auf die fünf großen Mitgliedsländer beschränken.
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