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Gutes Wetter für das Misthaus

Wenn Gustav Ginzel zum Stempel greift, Fans den Rucksack packen und der Heller in der Kasse klingelt, hat der Wiederaufbau der legendären Baude im Isergebirge schon begonnen  ■ Aus Dresden und Jizerka Detlef Krell

Gustav Ginzel trägt zwei Uhren. Die eine, ein Fundstück, zeigt sogar die Wochentage an, auf japanisch. Die andere Uhr gibt Wetterprognosen. Zu Hause in Tschechien, in Jizerka, geht Gustav Ginzel jeden Tag „Wetter machen“. Dann muß er hinter das Haus, wo noch die Skelette eines verdorrten Waldes stehen und die Meßinstrumente verschiedener meteorologischer Stationen ablesen. Die Werte gibt er vom Nachbarn aus per Telefon weiter.

Misthausbewohner Ginzel hat nun schon seit langem kein Wetter mehr gemacht. Er war beim Weltenbummlertreffen in der Schweiz; von dort nahm er einen Umweg ins Erzgebirge, nach Schwarzenberg. Dann ist er nach Dresden gefahren. Gustav Ginzel ist ein untersetzter, drahtiger Mann mit Kahlkopf und markanter Hakennase. Er legt seine rußfleckige Skimütze ab, eines der wenigen Stücke, die das Feuer überlebt haben. Er packt Stapel Reisebücher auf den Tisch, klappt ein Stempelkissen auf, breitet sechs Stempel aus: „Auf jeden Krempel gehört ein Misthausstempel.“

Dieser Maxime folgt er mit Fleiß. Wanderkarten, DDR-Personalausweise, Bücher, Geburtsurkunden sind für ihn ohne Stempel „ungiltig“. Das ändert er, erzählt dabei erst von Neuseeland, dann vom Misthausbrand, von Wiederaufbau und von Versicherungspolicen. Stempelt, während er mit Gott und der Welt telefoniert, die hinzukommenden MisthäuslerInnen begrüßt und sparsam an seinem Rotwein nippt. Die Reisebücher von seinem Freund Karl Johaentges aus Hannover sollen auf der „Soli-Party“ versteigert werden.

„Ich in meinem Alter sollte davon ablassen, das Misthaus wieder aufzubauen.“ Das habe ein Misthaus-Veteran dem 63jährigen Ginzel geraten. Doch der Visionär kennt kein Alter, er hat Pläne. Wie sie einmal war, soll die Baude wieder aussehen, nur besser. „Ideal wäre: Das Dach mit Sonnenkollektoren, lichtdurchlässig, damit man den Sonnenaufgang sehen kann, aber mit Schindeln gedeckt, wie im Isergebirge üblich.“ Holzschindeln mit Nut und Feder. Und nicht viel kosten darf es: „Vielleicht denkt sich jemand so was aus?“

Es gibt Leute, die haben „bei Gustav“ wochenlang gehaust. Alle 30 Tage mußten damals die DDR- BürgerInnen dann kurz zurück über die Grenze, um der polizeilichen Anmeldepflicht zu entgehen. Jeden Mittwoch 11 Uhr, berichtet Ginzel, wenn schönes Wetter war, sei die Stasi gekommen, das Besucherbuch zu kontrollieren. „Ich hatte mehr Stasi-Kontakte als jeder IM in Jizerka. Ist doch logisch.“ Lothar de Maizière und Josef Duchac hatten im Misthaus ihre Schlafsäcke ausgerollt, lange bevor sie Ministerpräsidenten – und als IMs enttarnt wurden. „Wenn der Westen noch so lockt, der wahre Fan im Misthaus hockt!“

Seinem Nachwendespruch folgt Globetrotter Ginzel selbst am wenigsten. Für manchen Misthäusler aber war diese legendäre Baude im fernen Osten die letzte unberührte, mit Devotionalien vollgestopfte DDR-Nische.

Jizerka hat zwar nur zwei ständige Einwohner, aber 14 Gasthäuser und 15 Pensionen. Der Winter hält sich in dem alten Glasmacherdorf ein halbes Jahr. Dann verhüllt meterhoher Schnee das sanft gewellte Bergland. Fichtenschonungen ruhen wie eisstarre Gischt im gleißenden, weißen Meer. Unter den prallen Schneepolstern grummelt die Iser. Die Sonne geht genau über dem Bukovec auf, dem dominanten, 1.005 Meter hohen Basaltkegel am Ortsrand. Das Thermometer fällt hier nicht selten auf dreißig Grad unter Null. Beste Zeit für einen Besuch im Misthaus und für ausgiebige Skitouren durch diesen vergessenen Winkel.

Doch auch im Sommer kommen immer wieder Leute, die für wenige Tage aus ihrem geregelten Alltag „aussteigen“ wollen. In der Nacht zum 24. August, gegen zwei Uhr, will ein Misthausbesucher Schritte hinter der Baude gehört haben. Minuten später stand sie in Flammen. Verunglückt ist niemand, gerettet aber wurde fast nichts von den zehntausend kleinen Dingen, die sich in dreißig Jahren zusammengesammelt hatten.

Gustav Ginzel war da gerade in Australien. Als er Mitte September heimkehrte, fand er über 60 Leute am Räumen und Bauen. „Es helfen Tschechen und Deutsche“, wiederholt er mehrfach. Der Brand nährte wilde Spekulationen. In tschechischen Zeitungen war zu lesen, „die Deutschen“ würden „den Tschechen“ die Schuld an dem Feuer geben. Der Sudetendeutsche Ginzel mußte sich auch schon einmal anhören, er betreibe einen „Treffpunkt der Revanchisten“. Jizerka verhält sich zum Misthaus wie das Wetter zum Gebirge: Mal bekommt Ginzel vom Nachbarn einen 1.000-Kronen- Schein, Matratzen, Decken und Lagerräume für den Wiederaufbau; ein andermal will ihm jemand verbieten lassen, wieder deutschsprachige Schilder anzubringen.

Ginzel klappt das Stempelkissen zu und hat immer noch Wein im Glas. Schuld an dem Feuer habe er selbst, sagt er. Und das ist auch so eine Geschichte. In Australien war er am Ayers Rock, zweitgrößter Monolith der Welt. „Ich hatte im Misthaus einen Stein vom Mount Everest, Sand aus der Sahara. Da wollte ich also so einen Stein vom Ayers Rock mitnehmen. Es gibt aber diesen Fluch der Aboriginals.“ Jeden, heißt es, der von dort einen Stein mitnimmt, treffe das Unglück. Ginzel: „Wir sind weiter in die nächste Stadt. Dort vor der Post wurde ein Kabel verlegt, und in dem Graben war wunderbarer roter Sand aus dem geologischen Zeitalter Perm. Davon habe ich mir ein Röhrchen voll mitgenommen.“ Später habe er dann „ausgerechnet, daß in diesen Minuten das Misthaus angefangen hat zu brennen.“

Abends steht der Lebenskünstler auf der Bühne des Dresdner Studentenklubs. Über 400 Leute zwischen 16 und 60 sind gekommen. Organisator Jörg Puchmüller strahlt wie die Sonne über dem Bukovec und scheint alle mit Vornamen zu kennen. Das erste Mal im Misthaus war er vor 18 Jahren, mit den Eltern. „Ich war unheimlich begeistert. Gustavs Führung durch das Misthaus kannte ich bald auswendig. Dann hat er mich diese Führung machen lassen. Er hat nur zugehört, und ich bekam ein Misthausführer-Diplom.“ Mit Stempel.

Heute arbeitet Puchmüller als Verwaltungschef beim Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Seine Dresdner Mansardenwohnung ist seit Monaten „Kontaktbüro“ für den „Misthaus-Wiederaufbau“. Über 4.000 Mark kann er nach diesem Abend auf das Spendenkonto überweisen.

Seine Freundin erzählt, sie mußte gleich am ersten Wochenende, nachdem die beiden sich kennengelernt hatten, mit ihm nach Jizerka fahren: „Das war wohl so eine Art Test.“ Puchmüllers zeitweiliger Dienstherr ist auch gekommen. Heinz Eggert war vier Jahre Sachsens Innenminister, aber seit zwanzig Jahren ist er Misthäusler. „Man fühlte sich dort relativ frei“, erinnert er sich. Im Frühjahr will er mit seiner Frau wieder hin und anpacken beim Wiederaufbau.

Geschäftsmann Gustav Ginzel verkauft „überlebende Gegenstände“, angekohlte Bücher und dieses „Weltbühne“-Heft, das 1984 erstmals in der DDR über ihn berichtet hatte.

Noch ein, zwei Dia-Vorträge in Dresden, dann wird er nach Jizerka zurückkehren. „Ich möchte nur noch in der Welt herumfahren und Dias machen, die alten sind ja verbrannt. Dann möchte ich nur noch Vorträge und Benefiz machen, damit Geld für'n Wiederaufbau reinkommt. Dann möchte ich dabeisein beim Bau. Dann muß ich auf die Ämter. Ich weiß nicht, was zuerst.“ Er hat immer mehrere Jobs auf einmal erledigt, „um die Zeit nich' so zu verludern.“ So kamen bis zu acht Arbeitsverhältnisse zusammen: „Ansichtskarten verkaufen für die Post, Müll beseitigen für die Gemeinde, als Bauarbeiter am Schloß in Jizerka (Rekonstruktion am ehem. Haus des Glasfabrikanten; d. A.) und Wetter machen für fünf Institute.“ Jetzt ist Gustav Ginzel Rentner und hat keine Zeit zu verlieren; Ende Juni soll der Rohbau des neuen Misthauses stehen. „Ist doch logisch!“

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