Mein Freund, der Baum

Ein großformatiger Bildband beschäftigt sich mit Mythen rund um den Baum, und eine Studie untersucht unseren Umgang mit Wildnis  ■ Von Christel Burghoff

Bäume, so heißt es, sind Doppelgänger des Menschen, Seelenträger, Gefäße des Übersinnlichen – sie sind göttlich. Wer sich nur lange genug mit ihnen befaßt, der hört es vielleicht irgendwann: das Raunen von alten und uralten Zeiten, in denen die Welt irgendwie noch stimmte mit ihren Wundern und ihren Geschichten. Wotan hing in der Weltenesche, Merlin saß in den Eiben, Nymphen wurden in Bäume verzaubert. Tatsache ist, daß in vorchristlicher Zeit Baumheiligtümern gehuldigt wurde.

Aber auch spätere Generationen schätzten Bäume. Selbst bürgerliche Revolutionäre pflanzten gerne einen zum Zeichen der Freiheit. Manchmal wurden Bäume das Opfer von Stellvertreterkriegen: Christliche Missionare fällten Eichen und meinten damit die göttliche Konkurrenz; weltliche Machthaber vergingen sich – aus ähnlichem Grund – an Freiheitsbäumen. Und die Sängerin Alexandra appellierte ans Gefühl und sang inbrünstig „Mein Freund, der Baum...“

In ihrem großformatigen Prachtband „Baumzeit“ haben Bernd Steiner und Verena Eggmann Baumveteranen in Szene gesetzt. Die europäische Landschaft scheint noch voll von alten, uralten Bäumen zu sein. Reich an imposanten Solitären von eigenwilligem Wuchs und mit mächtigen Stämmen, stabil und dem Boden verhaftet, als könnten sie selbst heute noch den Himmel tragen. Texte und Fotos zeugen von Baumkultur und Baumkult in traumhafter Landschaft. Eine phantastische Arbeit. Die Bäume wirken wie Überlebende aus mythischen Zeiten: An diese Alten kann man sich getrost anlehnen und sich dabei für alle Zeiten gut aufgehoben fühlen.

Natürlich wissen wir es besser. Noch während man träumt, legen andere den nächsten Wald um. Stadtbäume in Kübeln oder der Plastikersatz in Gasthöfen „Zur Linde“ lassen Schlimmes gewiß werden: Die aktuelle Baumkultur ist eine jämmerliche Baumkultur. Verehrung futsch, Baum kaputt? Der Künstler Beuys dagegen pflanzte neue Bäume. 7.000 junge Eichen bescherte er der Stadt Kassel mit dem Projekt „Stadtverwaldung“. Ein Fortschritt in Zeiten des Baumsterbens. Und doch kein hilfreiches Mittel. Die neuen Bäume, so dokumentieren die Autoren, werden längst nicht mehr das, was manche Veteranen heute noch sind: über dreitausend Jahre alt. Der Nachwuchs darbt selbst unter sogenannten Idealbedingungen dahin. Und auch die Alten machen sich rar. Auch wenn es so aussieht, als gäbe es dieses Europa der Bäume.

Für ihre „Baumzeit“ waren die Fotografin und der Autor volle zehn Jahre auf Motivsuche. Die Alten sterben rapide ab. Schade um die ganze Pracht.

Umgang mit Natur ist immer auch Politik

Alles, was in der Landschaft noch wild lebt, ist, wissenschaftlich gesehen, eine unersetzbare Ressource. Es speichert evolutionäre Zeit. Welche Arten und Ökosysteme für die Zukunft nötig sind, kann niemand prognostizieren. Und welche Schutzstrategien angebracht sind, ist im Grunde genommen eine Frage unseres Naturumgangs. Christoph Spehr hat diesen Naturumgang untersucht am Beispiel Wildnutzung, Artenschutz und Jagd, kurz Wildlifemanagement genannt. Die letzten 500 Jahre hat er sich genauer vorgenommen. Angesichts aller Schießwütigkeit und Vernichtungspolitik, die er zutage fördert, wundert man sich geradezu, daß überhaupt noch etwas übrig ist. Alle bedienten und bedienen sich der Natur: neuzeitliche Unternehmer wie Naturfetischisten, Bauern wie Städter, mittelalterliche Privilegienreiter wie moderne Outdoorfreaks.

Gleichzeitig wird schon früh in der Geschichte die eine oder andere Schutzstrategie durchgesetzt. Quasi ein kleiner Erfolg des menschlichen Unbewußten über das ganze böse Treiben. Aber das stimmt so offenbar nicht. Das Theoriekonstrukt, mit dem Spehr dieser Historie auf den Leib rückt, läßt keine Rückschlüsse auf die Moral der Akteure zu. Sie folgen ihren Interessen beziehungsweise dem, was sie für richtig halten. Alle zu ihrer Zeit. Lediglich die Zeiten haben sich gewandelt.

Heuzutage wird international immerhin die „Rationalität“ bezweifelt, mit der immer noch ganze Landstriche aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen geradezu ausradiert werden. Keine Frage allerdings zu den Frühzeiten des „bürgerlich-industriellen Projekts“. Um sich historisch durchzusetzen, war Ressourcenvernichtung die rationale Strategie schlechthin. Am Beispiel der „Great Plains“ in den USA führt Spehr vor, daß ihr wirtschaftlicher „Umbau“ in eine hochproduktive Agrarlandschaft zwischen 1850 und 1930 nur auf der Grundlage der Vernichtung sämtlicher Überlebensalternativen funktionieren konnte. Vergleichbare Vorgänge hat schon Karl Marx in den Studien zur ursprünglichen Akkumulation in England beschrieben.

Und noch einmal Amerika: Die ersten Naturschutzgesetze verdanken sich offenbar weniger der Tierliebe als vielmehr der schlichten Tatsache, daß zum „Rollenbild des kleingrundbesitzenden, puritanischen Familienvorstandes der Gestus der Jagd“ gehörte. Und wo Jagen und Angeln noch half, um Patriarch zu sein, da halfen die (männlichen) Gesetzesgeber ihren braven Bürgern auch weiter.

Letztere Episode ordnet Spehr historisch der Phase der „agrarischen Kommerzialisierung“ zu. Er hat die geschichtlichen Entwicklungen in sieben Etappen eingeteilt. Jede steht für die jeweilige Form, in der eine Gesellschaft ihr Verhältnis zur Natur definiert. Ein Umbruch findet immer dann statt, wenn eine Gesellschaft aktive Entscheidungen für andere Prioritäten trifft. Denn Natur ist letztendlich Politik.

Das Buch „Jagd nach Natur“ ist als Dissertation entstanden. Und zwar als Vergleichsstudie zwischen Nordamerika, Deutschland, Italien und Großbritannien. Vor allem politisch ist sie interessant: Sie steckt das gesellschaftliche Feld ab, auf dem Ökostrategien operieren müssen. Wollen sie erfolgreich sein, dann müssen sie das gesellschaftliche Naturverhältnis beeinflussen. Dem stehen natürlich gesellschaftspolitische Hindernisse entgegen.

Derzeit belegen Gen- und Datenbänke die ersten Ränge der Prioritätenliste im Wildlifemanagement. Die Avantgarde der Technokraten übt sich im „selektiven Überleben“. Diese Strategie könnte man auch als puren Zynismus interpretieren. Ob das unsere Zukunft sein soll, wird sich herausstellen.

Veränderungen sind machbar. In welche Richtung, das geben immer Politik und Wirtschaft vor. Ob unser Naturumgang ökologisch tragfähig wird, hängt von gesellschaftspolitischen Entscheidungen ab. Und die sollten, so Spehr, in Zukunft vor allem ein Konzept verfolgen: „Vermeidung von Schädigungen durch Verzicht auf bestimmte Projekte.“

Verena Eggmann, Bernd Steiner: Baumzeit. Magier, Mythen und Mirakel. Werd-Verlag, Zürich 1995, 115 DM;

Christoph Spehr: Die Jagd nach Natur, IKO-Verlag, Frankfurt am Main 1994, 42 DM