: Spazierengehen ist verboten
Alltag in Deutschland: Seit einem Jahr lebt eine syrisch-orthodoxe Familie im Kirchenasyl. Kein Ausflug, kein Einkauf: Jeder Schritt vor die Tür könnte die Abschiebung bedeuten ■ Von Daniela Vates
Augsburg – „Spazierengehen verboten – Arbeiten verboten – Schule verboten“, sagt Hanna Akgüç und lehnt sich in seinem Sessel zurück. Der 57jährige kann nicht viel deutsch, diese Worte jedoch hat er oft genug gehört, und sie reichen ihm, um seine Situation zu beschreiben: Seit einem Jahr lebt der syrisch-orthodoxe Christ aus der Türkei mit seiner Frau Terzo (56) und seinen Töchtern Suat (19), Islir (18) und Semento (16) im Kirchenasyl in Augsburg – so lange dauerte kaum ein anderes Kirchenasyl in Deutschland.
Die Familie sitzt im Wohnzimmer der Pfarrerswohnung und erzählt ihre Geschichte. Wieder einmal. „Es tut weh, sich zu erinnern“, sagt Islir und berichtet von ihrem Heimatdorf Linhil im Südosten der Türkei. Die syrisch-orthodoxen Christen stehen dort zwischen den Fronten des türkisch-kurdischen Bürgerkriegs. Auch in anderen Gebieten der Türkei sind sie – erkennbar durch die Sprache und das C im Paß – Diskriminierungen ausgesetzt. Vor drei Jahren flohen die Akgüçs nach Deutschland, wo einige Verwandte leben. Von ehemals 400 Familien sind nur noch einige wenige Ehepaare ohne Kinder in Linhil geblieben.
Ein Jahr lang leben die Akgüçs nun schon in der Gemeinde „Zum guten Hirten“ – gemeinsam mit dem Pfarrer in drei Zimmern. Die Kinder bekommen Privatunterricht in Deutsch, Erdkunde und Physik. Den Rest der Zeit bringt man auch irgendwie herum – mit Kochen, Stricken, Lesen und Fernsehen. Die Wohnung ist blitzblank geputzt.
Doch irgendwann sind alle Spiele gespielt. Es hat keinen Reiz mehr, Seidenmalerei zu lernen oder zu töpfern, im Gemeindesaal Gymnastik zu machen, von Besuchern erzählt zu bekommen, was draußen so passiert. „Ich möchte einfach mal rausgehen, selber einkaufen“, sagt Hanna auf Aramäisch. Der Supermarkt um die Ecke – ein unerreichbares Ziel.
In den ersten Monaten des Kirchenasyls gingen die Akgüçs noch manchmal auf die Straße, die Schwestern trafen ihre Freunde auf dem Platz vor der Kirche, spazierten durch die nahen Einkaufsstraßen. Doch seit August 1995 besteht ein Haftbefehl gegen die Familie: Nachdem ihr Asylantrag abgelehnt worden war, war sie einige Wochen untergetaucht, um der Abschiebung zu entgehen. Für die Augsburger Ausländerbehörde ein Grund, die fünf in Abschiebehaft zu nehmen, sobald sie den Fuß vor die Kirchentür setzen. „Innenminister Beckstein will keine Polizei in der Kirche“, heißt es in der Augsburger Ausländerbehörde. „Das gäbe einen Eklat in der Öffentlichkeit.“
Doch die moralischen Skrupel, die Günther Beckstein (CSU) vor der Kirche hat, gelten nicht auf der Straße. Deshalb ist die Kirche „Zum guten Hirten“ seit rund acht Monaten ein Gefängnis, finanziert durch die Verwandten der Akgüçs und durch Spenden. Zwar hat sich inzwischen die Rechtsprechung etwas geändert: Im März befand der bayerische Verwaltungsgerichtshof, daß es für syrisch-orthodoxe Christen tatsächlich keine inländische Fluchtalternative in der Türkei gibt. Doch beim zuständigen Ansbacher Verwaltungsgericht liegt der Asylfolgeantrag der Akgüçs immer noch in der Schublade: „Auf absehbare Zeit ist nicht mit einem Verfahren zu rechnen“, teilte das zuständige Ansbacher Verwaltungsgericht im Januar dem Rechtsanwalt der Familie, Jörg Gaissmayer, mit.
Bei der Familie hat das Warten Spuren hinterlassen: „Alle anderen werden anerkannt, nur wir nicht“, sagt Vater Hanna immer wieder enttäuscht und läßt einen aramäischen Wortschwall los. Die Familie hört zu – und dann lachen alle. Laut und ausgiebig. Hanna hat einen Witz gemacht, eine kleine Bemerkung, die die Anspannung löst. Suat vergräbt sich kichernd in ihrem Sessel, Istir prustet, Mutter Terzo, klein und zierlich, strahlt. Doch plötzlich kippt die Stimmung. Die Lachtränen vermischen sich mit echten Tränen, Terzo drückt ihr geblümtes Taschentuch an die Augen, Istir verbirgt das Gesicht in den Händen und geht aus dem Zimmer.
Hanna zieht einige Zettel aus der Jackettasche. Darauf hat der ehemalige Bauer und Maurer fein säuberlich seine Deutschvokabeln notiert: „Feige, Olive, Rosine, Zimt.“ Wörter, die ihm früher mal wichtig waren.
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