Die Granate machte keine Unterschiede

■ 20.000 Menschen gedachten in Tuzla der Opfer des Granatangriffes vor einem Jahr

Tuzla (taz) – Ein Blumenmeer überdeckte am Samstag den Platz vor dem Café Kapija in Tuzla, wo vor einem Jahr 71 Menschen durch eine Granate getötet worden waren. Über 20.000 Menschen drängten sich, um der Opfer zu gedenken, die am 25. Mai 1995 an dieser Stelle sterben mußten. Noch heute sind die Spuren des Geschosses auf dem Pflaster zu erkennen.

„Meine Mutter sagte noch, ich solle nicht mehr ausgehen, denn es habe zwei Granatangriffe auf das Zentrum gegeben.“ Amela M. ignorierte jedoch die Warnung und ging an dem lauen Frühlingsabend mit ihren Freunden ins Stadtzentrum. Sie wollte sich nicht durch die Militärs vorschreiben lassen, wie sie den Abend zu verbringen habe. Der Platz vor dem Café Kapija, dem sie zustrebten, hatte sich zu einem Jugendtreff entwickelt. Hunderte von Jugendlichen standen dort herum, lauschten der Musik und nippten an den mitgebrachten Getränken. Als Amela gerade auf den Platz einbiegen wollte, hörte sie das singende Geräusch der fliegenden Granate. Der Einschlag und die Explosion raubten ihr fast den Atem.

„Zuerst war ich taub und benommen.“ Dann hörte sie die Schreie der Verletzten. „Alles war voller Blut, Menschen wälzten sich auf der Straße, viele schrien vor Schmerz.“ Die Freunde versuchten einigen der Verletzten zu helfen. „Ich sah einen Jungen, der seine tote Freundin in den Armen hielt. Er schien nicht zu begreifen, was passiert war. Sie war das schönste Mädchen von Tuzla.“

71 Menschen waren tot, 124 verletzt. Die meisten von ihnen waren Jugendliche unter 20 Jahren. In den nächsten Tagen wurden die Todesanzeigen an die Hauswand nahe der Unglücksstelle geklebt. Die grünen Anzeigen mit dem Halbmond für die Muslime, die schwarzen Zettel mit dem Kreuz für die christlichen Kroaten und Serben. Die Granate, von Serben abgefeuert, hatte keinen Unterschied gemacht.

Sie war, so hieß es später im Bericht einer Untersuchungskommission, wohl gezielt: Sie sollte die Jugendlichen treffen. Die ersten beiden Granaten dienten den Artilleristen lediglich dazu, das Ziel zu finden. „Es müssen damals Leute in der Stadt gewesen sein, die dem Feind Angaben über die ersten Einschläge machten und die Artillerie dirigierten.“ Noch heute empfindet Amela Scham darüber. „Was haben sich diese Leute nur gedacht, als sie halfen, dieses Massaker an Zivilisten zustande zu bringen?“ Erich Rathfelder