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Eigene Grenzen überwinden

Das Coming out ihrer Söhne bereitet vielen Müttern schlaflose Nächte. Statt einer Antwort auf das „Warum“ finden sie Antworten auf nie gestellte Fragen  ■ Von Barbara Bollwahn

„Das vergesse ich nie“, erinnert sich Brigitte Doberstein. „Ich stand direkt hier neben dem Sessel“, sagt die 52jährige und zeigt auf das Plüschmöbel in ihrem Wohnzimmer in Lichtenberg. „Auf dem Tisch lag eine rote Karte. Darauf stand gay.“ Das Wort hatte die Bankkauffrau bis zu diesem 2. Juni 1992 noch nie gehört. „Was heißt das?“, hatte sie ihren damals 18jährigen Sohn Torsten gefragt. „Das heißt schwul“, klärte der Sohn seine Mutter auf. Noch bevor sie anfangen konnte, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, fügte er hinzu: „Ich bin schwul.“ Brigitte Doberstein hat ersteinmal tief durchgeatmet und um Fassung gerungen. „Ich wollte ihn doch nicht schocken“, sagt die Mutter über den Sohn, der sie soeben in einen schockähnlichen Zustand versetzt hat. Doch Torsten war trotzdem schockiert. „Jetzt weint sie wegen mir“, dachte er, als seine Mutter in der Küche verschwand, um ihre Tränen zu verbergen. Dabei hatte Torsten, der lange Zeit gehofft hatte, bisexuell zu sein, hin und wieder Schwulenzeitungen im Wohnzimmer rumliegen lassen. Doch weder Mutter noch Vater taten ihm den Gefallen, ihn darauf anzusprechen. Ein liberales Elternhaus eben.

Als Torsten seiner Mutter eröffnete, daß er sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, war Brigitte Doberstein 48 Jahre alt und hatte sich mit dem Thema Homosexualität noch nie beschäftigt. Nach „einer schlaflosen Nacht“ habe sie sich „recht schnell damit angefreundet“. Habe sie sich damit „anfreunden müssen“, schiebt sie nach und lächelt verlegen. Ein Lächeln, das wie eine Entschuldigung dafür aussieht, daß ihr das Wort schwul noch immer nicht wie selbstverständlich über die Lippen kommt. Ihr Sohn habe ihr keine andere Wahl gelassen und sie geradezu „in die Öffentlichkeit geschubst“. Dafür ist sie ihm heute dankbar. Ob im „Sonntagsclub“, einem schwul-lesbischen Treffpunkt mit Beratung, in Buchläden, wo sie sich mit Literatur eingedeckt hat oder bei Treffen mit Freunden ihres Sohnes – überall hat sie „nette Leute aller Couleur“ getroffen, „die locker miteinander umgehen“.

Wie viele andere Eltern schwuler oder lesbischer Kinder, hat sich auch Brigitte Doberstein zuerst die klassische Schuldfrage gestellt: „Was haben wir bloß falsch gemacht?“ Doch die Suche nach einer Antwort hat sie längst aufgegeben. Denn mittlerweile weiß sie, daß es die nicht gibt. „Ich will mich nicht mit Schuldgefühlen fertigmachen. Das bringt nichts“, sagt sie heute.

Brigitte Doberstein hat sogar einen für sie trostvollen Nebeneffekt des Schwulseins ihres Sohnes gefunden und dafür, daß sie von ihm keine Enkelkinder zu erwarten hat: „Andere Mütter verlieren ihren Sohn an eine Frau. Ich habe meinen Sohn viel länger.“ Erika Soukup, eine 58jährige Westberlinerin, deren Sohn ihr mit 18 Jahren eröffnete, daß er schwul ist, ist ihm sogar „dankbar“. Er habe ihr „den Weg freigemacht“ für ihr eigenes Coming-out. Nachdem sie die Schuldzuweisungen ihres Ex-Mannes – „Emanzenmütter produzieren schwule Söhne“ – über Bord geworfen hatte, hatte Erika Soukup ihre erste lesbische Beziehung. „Vorher in der Pubertät habe ich das unterdrückt“, sagt sie heute. Jetzt weiß sie, daß es nicht um „fehlende Jungenerziehung“ geht, sondern daß es „ein breites Spektrum an sexuellen Möglichkeiten gibt“.

Um anderen Eltern selbstzerstörerische Fragen nach den „Gründen“ für Homosexualität zu ersparen, gründete sie vor einigen Jahren eine Elterngruppe, die sich einmal im Monat trifft. Vielen Eltern sei schon nach einem Gespräch geholfen, sagt sie. Doch das eigentliche Problem seien die Mütter und Väter, die niemals eine Beratung aufsuchen würden, weil sie das „Anderssein“ ihrer Kinder nicht akzeptierten. Welche Gruppe in der Mehrheit ist, sei schwer zu sagen. Es kämen ohnehin nur diejenigen, die sich damit auseinandersetzen.

Brigitte Doberstein ist in der Zeit nach dem Coming-out ihres Sohnes über viele große und kleine Schatten gesprungen: Sie hat mit ihrem Sohn über Safer Sex und ihre Angst vor Aids gesprochen, sie nimmt teil an seiner Beziehung zu seinem acht Jahre älteren Freund. „Ich habe geredet, das war wichtig“, erinnert sie sich. „Man darf nicht zu lange warten, sonst verliert man die Kinder.“ Im Laufe der Zeit ist für sie aus der „Randgruppe“ der Schwulen „eine Gruppe von Menschen geworden, die sich untereinander das Gefühl des Zusammenlebens“ vermittelt. Denn eine ihrer „größten Sorgen“ war die, daß ihr Sohn allein sein könnte. Auch nach vier Jahren „arbeitet“ Brigitte Doberstein noch immer an sich. „Wenn ich meinen Sohn behalten will, muß ich drum kämpfen“, sagt sie. Dieser Kampf heißt Überwindung ihrer eigenen Grenzen. Eine dieser Grenzen ist das Thema Sex zwischen Männern. Nachdem sie sich mit den Praktiken „theoretisch“ beschäftigt hat, will sie sich jetzt Männerpornos ansehen. Das Angebot ihres Sohnes, ihr welche zu leihen, nimmt sie mit einer Bestimmtheit an, die keinen Zweifel daran läßt, daß sie sich ganz sicher etwas anschauen wird, was ihr vielleicht nicht unbedingt gefallen wird.

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