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Ein Egomane wie du und ich

■ Der Drogenzwerg ist tot, es lebe der Entertainer: Ein praktisch unverkniffener Lou Reed beehrte Berlin

Von John Cale, dem ewigen Zweiten bei Velvet Underground, stammt das Bonmot, der regelmäßige Mißbrauch von Amphetaminen habe die Muskelstruktur in Lou Reeds Gesicht dermaßen irreversibel verändert, daß er praktisch nicht mehr lächeln kann. Stimmt aber alles gar nicht. Kaum hat der Mann im knappen schwarzen T-Shirt die Bühne des Tempodroms erklommen und seiner teuren Designergitarre die ersten Akkorde von „Sweet Jane“ entlockt, ist es auch schon passiert. Hunderte Zeitzeugen erkennen mit bloßem Auge, ganz kurz nur, aber keine Fata Morgana: Lou Reed lächelt!

Am alten Berlin kann es nicht liegen. „In Berlin/By the wall/We were five foot ten inches small“ ging die Weise im gleichnamigen Album von 1973 – konzeptuelle Totaldepression und Drogenklaustrophobie in der Metaphernstadt, gefolgt von Selbstverausgabungstourneen, die unter Slogans wie „Get Down With Your Bad Self“ oder „Live! Take No Prisoners“ liefen. Kein schöner Anblick, sagen die Annalen. Danach die Phase der endlosen Transformationen, ihr kennt die Story: Vom Glamrocker zum Protopunk, vom Gender-bender zum Psycho-Killer, vom ausgermergelten Transzendentaldelinquenten mit ins Haupthaar rasierten Hakenkreuzen zum nackenspoilerbewehrten rockenden Oberlehrer, der sein lernunwilliges Publikum mit bösen, hinter randlosen Brillengläsern hervorgeschickten Blicken abstraft – eure Demut kotzt mich an!

Aber Depriland ist abgebrannt, und das Bäuchlein unter dem kleinen Schwarzen ist auch nicht zu übersehen. Heute peitschen die lauten, doch wohltemperierten Gitarren durch ein Rockprogramm, das vor allem Rockprogramm sein will: „New York City Man“, die Quersumme von Reeds Schaffen als Bauchredner der Großstadt, gleich als zweite Nummer, auch ohne Bläser von der bewährten Begleitband um Mike Rathke an der Gitarre und Bassist Fernando Saunders solide dahingefunkt; „New Sensations“ in einer Version, die die Message nach Hause bringt, dito „Dirty Boulevard“, dramaturgisch geschickt gefolgt von „Set The Twilight Reeling“, Zentralballade des aktuellen Albums, mit der auffordernden Zeile „Take me for what I am, a star truly emerging“.

Oh, der Superstarstatus! Er ist despotisch in Verwahrsam genommen. Reeds Sekundanten sind deutlich unterfordert mit dem, was der „Prince of Stories“ am Griffbrett veranstaltet, ergeben sich aber brav in die Heuer. Es ist sonnenklar, wer hier das Genie ist und wer nicht – das alte Egoproblem mit der anorganischen Zusammensetzung von Velvet Underground ist Reed endlich souverän losgeworden. Wenn er zum epischen „Riptide“ ausholt, seinem panerotischen Minnesang an die frouwe Laurie Anderson, raucht Rathke hinten gelangweilt seine Zigarette, und Schlagzeuger Tony „Thunder“ Smith scheint schon beglückt, wenn er zum Schlußdonner der Songklassiker ein Zehntel seiner Fähigkeiten an der Bassdrum zum besten geben darf. Dann dreht Reed sich kurz aufmunternd um: Toll gemacht, Jungs! Bloß lachen darf keiner. Spiel es laut und schau zu, wie die Socken dabei weiß werden. Bescheiden ist das alles immer noch nicht zu nennen, doch aus dem pathetischen Todeszwerg ist ein (fast) unverkniffen augenzwinkernder Entertainer geworden, ein Egomane wie du und ich. „Warum auch nicht?“ hat Reed in einem Interview in eigener Sache erklärt. „Ich habe Lou Reed erschaffen. Ich habe nicht im entferntesten etwas mit dem Typen zu tun, doch ich kann ihn gut imitieren – absolut gut.“

Mann sprechen Wahrheit. Die Vorstellung „Lou Reed“ ist zwar mittlerweile größer als der Typ selbst, es soll aber okay sein mit uns: In Berlin konnten alle Beteiligten ganz gut damit leben. Thomas Groß

Noch zwei Termine: 27.7. Ludwigsburg, 28.7. Dresden

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