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„Immer mehr Menschen verschwinden“

■ Die Türkei-Expertin Elisabeth Köhler über die Ursachen des Hungerstreiks

taz: Welche Veränderungen der Haftbedingungen erwarten Sie von der neuen türkischen Regierung?

Elisabeth Köhler: Von der Regierung Erbakan erwarte ich nur negative Veränderungen. Sie bekennt sich mehr zum islamischen Fundamentalismus als zu westlichen Vorstellungen von Demokratie. Es ist mit einer Verschlimmerung zu rechnen.

Der neue islamistische Justizminister Kazan hat erklärt, daß die Gefängnisse „Ausbildungszentren terroristischer Organisationen“ sind.

Das ist Propaganda, um nichts ändern zu müssen. Die massive Verschärfung der Haftbedingungen ist die Ursache für diesen Hungerstreik. Die Menschen sterben lieber, als unter diesen unmenschlichen Bedingungen weiterzuleben.

Was ist so unmenschlich?

Die Gefangenen leben zusammengepfercht und sind der Folter ausgesetzt. Die Zellen sind kaum belüftet und fast ohne Licht. Das Essen ist schlecht. Die Gefangenen werden willkürlich auf die Knäste verteilt, die Angehörigen wissen nicht, wo die Gefangenen sind. Sie können sie auch nicht besuchen. Die Angehörigen haben kaum Möglichkeiten, Kontakte zu den Gefangenen aufzunehmen.

Ist der Hungerstreik auch ein Ausdruck anderer Konflikte?

Es werden nicht nur Kurden, sondern auch Aleviten und Linke willkürlich festgenommen. Immer mehr Personen verschwinden spurlos. Auch Gefangene verschwinden plötzlich. Das passiert nicht nur im Südosten, sondern auch mitten in Istanbul und in Ankara. Der Repressionsapparat hat sich massiv verschärft.

Justizminister Kazan behauptet, der Hungerstreik sei von außen befohlen worden.

Druck von außen gibt es sicherlich: Aber der Protest weitet sich vor allem deshalb so stark aus, weil es so viele Menschen gibt, deren Angehörige oder Freunde verschwunden sind. Es handelt sich auf keinen Fall um eine von oben organisierte Aktion. Die Menschen würden sich nicht bis zum Tod instrumentalisieren lassen.

Wie hat die Bundesregierung bisher reagiert?

Ich kenne keine offiziellen Reaktionen aus Bonn, was nahtlos zur Politik dieser Regierung paßt. Kinkel glänzt durch Untätigkeit.

Was kann Bonn denn tun?

Die Zollunion zwischen der EU und der Türkei müßte storniert werden. Während es in der Vergangenheit schon häufig zu Protesten im kurdischen Teil des Landes gekommen ist, haben sich diese Proteste jetzt auf die gesamte Türkei ausgeweitet. Das ist ein Alarmzeichen. Solch eine Situation gab es noch nie. Nur als das Militär putschte. Die türkische Demokratie ist insgesamt in einem sehr bedenklichen Zustand. Amnesty protestiert schon seit längerem gegen die Haftbedingungen und Menschenrechtsverletzungen.

Gibt es in Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber der Türkei?

Ja, natürlich: Es leben sehr viele Türken in der Bundesrepublik. Gleichzeitig haben wir eine besondere Verantwortung, weil die Bundesregierung Waffen an die Türkei liefert. Interview: Verena Schmidt

Frau Köhler ist Abgeordnete der Grünen im bayerischen Landtag

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