Krähwinkels Ende?

■ Sommerakademie: Hermann Korte über den Reiz des Kleinstädtischen

Professor Kortes autobiografische Pendlererfahrungen zwischen Kleinstadt und Metropole gleichen einem historischen Reisebericht durch Zeit und Raum. In murmelnder Behendigkeit ließ er das Thema „Nicht Provinz, nicht Metropole“ im Rahmen seines Vortrages bei der Sommerakademie Spielräume – Stadtansichten – Lebensräume zusammenfließen.

Die kurze Strecke, die das deutsche Bürgertum in der Kleinstadt vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre zurückgelegt hatte, belebte der Soziologe mit Zitaten aus Kotzebues Stück Die deutschen Kleinbürger mit den dortigen „Krähwinklern“.

Dann stieg Korte biografisch in die Prä-Apo-Zeit ins Geschehen ein. Als Münsteraner Professorensohn schmeckte er dem Mief und dem Klatsch noch einmal nach, dem Gefühl „Man weiß, daß man weg muß“. Am Beispiel seines münsteraner Studiums, wo man mit großer Selbstsicherheit sein Schelsky-Wissen genoß und sich ungeheuer fortschrittlich empfand, zeigte er die ungeheure Diskrepanz zum Leben in einer Metropole.

Der Wechsel nach Berlin zum weiterführenden Studium glich „einem Schock“. Hier standen plötzlich „Überraschungen gegen Erwartetes“: Die Frankfurter Schule, Kapitalismuskritik und Frauen, die nicht sagten, „Mann und Frau sind gleich“, sondern „Frauen sind anders“.

Seinen aus Münster mitgebrachten Defiziten – der unterentwickelten linken Theorie in der Soziologie – stand jetzt Triebstruktur und Gesellschaft von Marcuse gegenüber. In der Metropole diskutierte man Adorno und begriff Soziologie ökonomisch, psychoanalytisch und partizipativ.

Der mittlerweile als Assistent tätige Kortes pendelte also in seinem 2 CV zwischen Münster und Berlin und blieb dabei beiden Seiten suspekt. Die Westfalen wähnten ihn an den nächtlichen Berliner Straßenschlachten beteiligt, während die Berliner Kommunen ihn nicht für sich gewinnen konnten.

Über seine individuelle Erfahrung kommt Korte zu der These: Ohne Kleinstadt keine erfolgreiche Reform. In der Kleinstadt müssen sich die Trends durchsetzen, die in der Metropole entworfen werden. Wobei er dem Fernsehen die Funktion eines Bildungsapparates zuschreibt. Durch Nachahmung und Selbstbewußtsein entwickelt sich über dies Medium Emanzipation in der Kleinstadt. Und die Krähwinkel-Relikte? „Ich habe mir angewöhnt, lachende Duldung zu üben“, verrät Korte, inzwischen Pendler zwischen Hamburg und Bielefeld. Mit welcher Automarke er heute pendelt, blieb offen.

Elsa Freese