: (Sexuelle) Gewalt gegen Kinder
■ betr.: „Die Täter sitzen zu Hause am Video“ von Micha Hilgers, taz vom 27.8. 96
Wenn Psychologen sich zu Kindesmißbrauch äußern, glauben sie, sich auf ihrem Fachgebiet zu bewegen. Dessen Enge wird Hilgers – wie so vielen – zum argumentativen Verhängnis.
Über das gesicherte Fachwissen wird in Nebensätzen informiert, um Mißverständnisse auszuräumen, wie es heißt: „Das Erregende ist regelmäßig die illusionäre Aufhebung der Inzest ...schranken: Anything goes ist das Wesen jeder Perversion.“ Als müßte nicht an dieser Frage die Diskussion einsetzen. Ist sie ausgeblendet, geraten die Erklärungen zu Allgemeinplätzen: „Kern der Sache ist, daß wir eine Gesellschaft heimlicher Kinderschänder und Perverser sind.“ Offen bleibt, ob Hilgers sich einschließt. Dabei ist diese Frage zentral. Hat die heimliche Perversion nicht etwas mit den Inzesttabus zu tun, und vor allem, wo setzt die „Perversion“ ein? Für Freud reichte sie vom Kuß bis zur Homosexualität, und es ist vor allem sein Verdienst gewesen, zu zeigen, daß die Grenzziehung nicht mit wissenschaftlichem Seziermesser zu leisten, da sie gesellschaftlich abhängig ist. Wie aber geht Hilgers mit diesem Dilemma um?
Anstatt den epochalen Fortschritt zu würdigen, daß Kindesmißbrauch in Deutschland seit kurzem auch dann verfolgt werden kann, wenn er von Deutschen im Ausland an ausländischen Kindern begangen wird, womit der Rechtsstaat langsam beginnt, seine nationalstaatliche Borniertheit zu überwinden, ist Hilgers besorgt, daß (wenn auch die Tat im Ausland begangen wurde), so doch die „Perversion“ nicht „beim Einchecken für den Heimflug mit dem Gepäck zugleich ... aufgegeben“ wird. Hinter dieser Verschiebung der Anklage von der Gewalttat auf die psychische Struktur des Täters (die unter der Hand die Staatsgrenze als relevante Größe wieder mitführt) steckt die über 200 Jahre alte Hoffnung der sich humanistisch gebärdenden Psychologie: Man könne, statt die Tat zu bestrafen und die Machtlosen zu schützen, gleich gegen die Perversion selbst, das Übel an sich, vorgehen. Statt die brutalen Machtverhältnisse, die hinter dem Mißbrauch stecken zum Stein des Anstoßes zu nehmen, soll die Grenze zwischen normal und anormal wieder deutlich gezogen werden. Als könne die moderne, rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaft gegen das allseits beklagte Anything goes etwas ausrichten, indem sie sich wieder über rituell gesicherte Inzestschranken und andere Tabus integriert. [...]
Illusionär ist nicht nur die Aufhebung der Inzestschranken für den Täter beim Kindesmißbrauch, wie Hilgers zu Recht schreibt – gefährlich illusionär ist auch die Bekämpfung durch Ausgrenzung des Übels an sich. Die Mörder sitzen nicht „mitten unter uns“, sie sitzen in uns. Bestraft werden sollten Taten. Die Verleugnung der bösen Gedanken benötigt dagegen Projektionsflächen. Unter diesem Gesichtspunkt sollte die Psychologie sich eher fragen, warum anderes Leid und Elend millionenfach geschluckt wird, während dieses spezielle sich für Medieninszenierungen bestens zu eignen scheint, sollte sich zudem fragen, warum der viel diskutierte Kindesmißbrauch nur selten Anlaß bietet für die weltweite Anerkennung von Kinderrechten und die Brechung des elterlichen Gewaltmonopols einzutreten. Das macht ja Belgien so populär: Die Täter sind klassische Verbrechertypen und der Rechtsstaat versagt auf der ganzen Linie. Das ist die Stunde, in der der moralische Saubermann sich in Einklang mit seinen anarchisch- aggressiven Affekten fühlen darf. Der Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe flimmerte folgerichtig noch am gleichen Abend unkommentiert über die Bildschirme. Hier hätte Psychologie zu analyisieren, statt mit Pauschalkategorien wie „eine Gesellschaft Perverser“ noch argumentative Munition zu liefern. Olaf Rahmstorf, Konstanz
Der Ruf nach härteren Strafen bei Kindesmißbrauch, so verständlich er ist, zeigt doch sehr deutlich die Hilflosigkeit und vielleicht auch Bequemlichkeit bezüglich einer ursächlichen Behandlung des Problems. Wie bei jedem anderen Vergehen, so ist besonders auf diesem heiklen Gebiet die Ursache in einem Versagen der Gesellschaft mit ihren bildenden Einrichtungen wie Schule, Massenmedien und Kirchen begründet. Der Kindesmißbrauch beginnt ja nicht erst mit der Tat, er beginnt bereits bei der Vernachlässigung der potentiellen Täter hinsichtlich einer frühzeitigen Aufklärung über ihre naturgegebenen Triebe und einen sozialverträglichen Umgang damit.
Ein Kindesmißbrauch besteht in dem allgemein üblichen Bestreben, die Kinder möglichst früh zur Leistung und zur Anpassung an bestehende familiäre, konfessionelle und gesellschaftliche Normen zu erziehen und zu wenig der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, vor allem in dem sensiblen Bereich der Gefühle Raum zu geben. Trotz scheinbarer Freiheit ist es noch immer die Regel, einen der stärksten Triebe in seiner Entwicklungsphase zu tabuisieren anstatt zu kultivieren und so einen verantwortlichen Umgang damit zu ermöglichen. Solange die Orientierung unserer Gesellschaft auf Gott und die Welt, das heißt unter konfessionellen Lippenbekenntnissen auf Wirtschaftswachstum, materiellen Wohlstand, Profit, Konsum und Unterhaltung anstatt auf Menschenbildung, auf Bildung zur Menschlichkeit ausgerichtet ist, so lange wird es, auch bei noch so hohen Strafen, Kindesmißbrauch jeglicher Art geben. Rudolf Kuhr,
Humanistische Aktion,
München
[...] Was sind Rutschkys Motive, sexuellen Mißbrauch, Vergewaltigung, Nötigung, Machtmißbrauch, Geldgier und Gewalt zu relativieren, zwei viel zu lange Spalten lang mit Zahlen zu jonglieren, um nichts zu sagen? [...] Michaela Reisner,
Heidenrod/Kemel
Für Katharina Rutschky mag es bereits ein Fortschritt sein, den Begriff „Kinderschänder“ zu verwenden, hat sie sich bisher doch für eine Verharmlosung des Problems des sexuellen Mißbrauchs engagiert. [...] Für die taz wünsche ich mir, daß der Begriff „Kinderschänder“ aus dem Vokabular verschwindet. Er bedeutet doch nichts anderes, als daß ein Kind mit Schande beladen wird, fußt also in einer Tradition, in der Vergewaltigung mit „Entehrung“ gleichgesetzt wird, woraus sich Vertuschen als naheliegende Konsequenz ergibt. Der Gewaltaspekt in der Beziehung Erwachsene/r–Kind beim sexuellen Mißbrauch wird von diesem Begriff gerade nicht erfaßt. „Kindervergewaltiger“, „Kinderfolterer“ oder – im Fall Dutroux – „Kindermörder“ bringen den Tatbestand doch wesentlich klarer zum Ausdruck! Harald Richter, Bielefeld
[...] Empfindet Ihr es als besonderen Clou, diese bösartige und neurotische Missionarin wider den „Mißbrauch des Mißbrauchs“ zur Stockholmer Konferenz ins Blatt zu bringen? Feixt sich ein spätpubertärer Redakteur jetzt eins, wenn sich Dutzende von Leserinnen aufregen? Daß die Frau unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse vorm Schreiben offenbar Kreide gefressen hatte, führte nur dazu, daß sie überhaupt nicht mehr wußte, wohin sie wollte. Nicht, daß sie es sonst wüßte – aber dieser Text war Verworrenheit pur, nur Rutschkys unangenehmer, immer nach Hatz und Menschenfeindlichkeit riechender Ton blieb unbeschadet. [...] Susanne Billig, Berlin
[...] Ich kann mir kaum etwas Unangenehmeres vorstellen, als über Zahlenwerk nachzusinnen, das keinerlei inhaltliche Relevanz hat, außer uns mitzuteilen, daß die sexuelle Ausbeutung von Kindern ein weitverbreitetes Phänomen ist. Das korinthenkackerische Zerpflücken statistischer Angaben geht an jedweder inhaltlichen Auseinandersetzung vorbei und trägt damit allenfalls zu einem allgemeinen Verblödungsprozeß bei. Dies vermischt mit ein paar Hinweisen auf die faschistischen Wurzeln des Begriffs „Kinderschänder“ ergibt ein würziges Artikelsüppchen, dessen Macherin sich wahrscheinlich genüßlich die Hände reibt, in der tiefen Befriedigung darüber, wieder einmal etwas „Unbequemes“ fabriziert zu haben, eine Meinung gegen den Strom formuliert zu haben. Bloß ist die Rezeptur so einfach und die Ausführung so schlecht, daß es fast schon Mitleid erregt. Vera Kattenmann, Berlin
Katharina Rutschky eröffnete mal wieder die Jagdsaison auf die kleinen Sünderlein, die nicht wagen, ihre Perversitäten so frech und selbstbewußt zu organisieren wie die Dutrouxs. Wir sind eine Gesellschaft von heimlichen Kinderschändern und Perverser, meint sie, und wenn jemand ins Gefängnis gehört, dann doch wohl die ganze Gesellschaft und nicht nur die großen Fische, die sich von staatlichen Gesetzen und der verlogenen Moral der Kinderschützer nicht einschüchtern lassen. Das ist echte Waidgerechtigkeit à la Rutschky: Der Mensch an sich ist schlecht. Mit solch simplen Geistesblitzen verdient sich heute eine Lohnschreiberin ihr Brot.
Was Frau an Figuren wie Dutroux studieren kann, ist folgendes: Dutroux hat das gemacht, wozu heute ständig alle möglichen Leute, die nicht mehr in Lohnarbeit ihr Auskommen haben können, aufgefordert werden. Macht ein Geschäft auf, geht in die Nischen der Gesellschaft, macht alles käuflich, verwandelt jede soziale Beziehung, jedes Bedürfnis in eine Ware. Alles, was bisher noch nicht wertmäßig erfaßt worden ist, wird nun integriert in den Prozeß der Wertvergesellschaftung. Die leichte sexuelle Verfügbarkeit von Kindern und Jugendlichen bekommt eine geschäftsmäßige Grundlage. Dabei werden Kinder und Jugendliche zum Gebrauchswert, verwandelt sich ihre Subjektivität zum puren Objektsein für die Produktion von Wert. Die Pornoproduktion kann nur kapitalproduktiv sein, wenn im Prozeß der Produktion die Kinder zerstört, zerschlagen und verzehrt werden. So wie jedes Stück Natur im Kapitalprozeß zugrunde gerichtet wird. Die spezifische Inwertsetzung von Kindern und Jugendlichen durch die Pornoindustrie (nach der Inwertsetzung der Frau) erzeugt gleichzeitig auch eine gesellschaftliche Kritik daran, die allerdings hilflos bleibt, solange sie nicht das Wertverhältnis selbst angreift. Irmgard Schaffrin, Bochum
Kaum ist die unsägliche Mißbrauchsdiskussion ein wenig abgeebbt, bietet der Fall des belgischen „Kinderschänders“ Marc Dutroux ein gefundenes Fressen für die Wir-haben-es-ja-immer-schon-gewußt-Gutmenschen und Berufshysteriker der taz. In Eurer gesamten Berichterstattung wird, mangels belegbarer Fakten, fast ausschließlich mit (von Natur aus unbekannten) „Dunkelziffern“, (für gewöhnlich ungenauen) „Schätzungen“ sowie Verdächtigungen und Unterstellungen operiert, die Ihr bei der Konkurrenz von nebenan gnadenlos geißeln würdet – aber wenn ein Thema so brisant und brennend ist, geht das offenbar okay.
[...] Damit wir uns nicht falsch verstehen: Mir ist keineswegs daran gelegen, sexuellen Mißbrauch, Sextourismus und die Machenschaften der Hersteller, Vertreiber und Konsumenten von Kinderpornografie auch nur ansatzweise zu rechtfertigen. Aber hysterische Phantastereien und Zahlenspiele sind angesichts derartiger Probleme wenig hilfreich, sondern dienen – siehe Gewalt- beziehungsweise Scientology-Debatte – konservativen bis reaktionären Kräften in der Regel als Vorwand, nach Kontrolle und Zensur zu schreien und immer neue Repressionsmaßnahmen zu fordern, die in der Konsequenz eine Einschränkung der Grundrechte bedeuten – und das kann doch eigentlich nicht Sinn der Sache sein. Thomas Mohr, Berlin
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