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■ Über das Entstehen und Verschwinden von DiskursenDas Gesicht an der Kabinenwand

Mitte der achtziger Jahre wird an der Wand einer Männertoilette der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek ein gewisser Frank Lampe als schwul geoutet: „Frank Lampe ist schwul, wohnhaft...“ steht in großen, Lettern an einer Kabinenwand. Es folgt eine Hamburger Adresse mit Telefonnummer. Nach kurzer Zeit tauchen auch in anderen Toiletten des Gebäudes gleiche Texte in gleicher Handschrift auf, geschrieben mit dem gleichen Stift, später dann auch in anderen Universitätsgebäuden, nun auch geschrieben von anderer Hand.

Der anonyme Autor des Urtextes hat einen Diskurs ins Leben gerufen, der sich die nächsten zehn Jahre unkontrolliert und doch systematisch ausbreiten sollte, ähnlich einem Grippevirus in den Metropolen der prävirtuellen oder einem Computervirus im Netz der dezentralen Knotenpunkte der virtuellen Welt.

Schon bald kennt nahezu jeder Student der Hamburger Universität den Namen Frank Lampe. (Den Studentinnen bleibt der Name dagegen unbekannt.) Überall in den Männerklos finden sich korrespondierende Kommentare, Beschimpfungen des Frank Lampe und anderer Schwuler wie des Schwulseins an sich, Outings erfundener oder wirklicher oder angeblicher Schwuler mit erfundenen oder wahren Adressen, Pamphlete gegen Wandschmierer und Schwulenfeinde, Mutmaßungen über den vermeintlichen oder wirklichen Narzißmus des vermeintlich oder wirklich schwulen wirklichen oder erfundenen Frank Lampe und mehr oder weniger plausible Pauschalerklärungen für den gesamten Scheißkabinenwanddiskurs, zum Beispiel: „Peter Hahne will mit seinen Kritzeleien davon ablenken, daß er selber eine Schwuchtel ist!“

Im Lampediskurs bündelt sich die Geschichte des modernen Diskurses schlechthin. Wie die Moderne als Epoche sich von der einfachen zur reflexiven (Ulrich Beck) gewandelt hat, vollzieht sich hier nochmals in nuce die Entwicklung von der einfachen Kommunikation zur reflexiven, von determinierten zu selbstreferentiellen Systemen, positivistisch-empirischen Diskurs zum Diskurs über den Diskurs, zum Metadiskurs.

Michel Foucault, der auch schwul war, aber Frank Lampe wohl nicht kannte, sagte einmal über den Diskurs: „Es gibt keine Aussage, die nicht auf die eine oder die andere Weise nicht erneut andere aktualisiert.“ So taucht jede neue Schmiererei neben irgendeiner Kloschüssel die vorherigen, bereits bekannten Texte und Aussagen über Frank Lampe in ein neues Licht, wirft neue Fragen auf, dekonstruiert vermeintliche Gewißheiten und bringt so den Diskurs zum Schillern.

Jedem Beobachter erschließen sich jeweils andere Zusammenhänge aufgrund jeweils unterschiedlicher Rezeptionsreihenfolgen und damit korrelierender subjektiver Kausal- und Sinnverknüpfungen. Die Grenze zwischen Gedanke und Gestank entpuppt sich im Raum-Zeit-Labyrinth als Konstruktion des prekären Zusammenspiels von Zeit und Zufall, als kontingente Variable des Raumes in der Zeit und der Zeit im stinkenden Raum und somit schließlich als Variable der Darmfunktion von Leser und Autor. „Frank Lampe ist Gott“, bzw. „Franz Beckenbauer“ bzw. „ein Arschloch“ sind synchrone Ausflüsse von Gedanken und Exkrementen, Produkte des diskursiven Einschlusses.

Das Zeichen „Frank Lampe“ ist das semiotische und gleichsam dezentrale Zentrum des Diskurses. Der diskursive Mikrokosmos, den die Gesamtheit der Klosprüche über Frank Lampe darstellt, ist ein Lehrstück über die komplizierten Mechanismen der Entstehung, Verselbständigung und Entwicklung von Diskursformationen auf der Basis der Dispositive der Sprache, die schließlich im Metadiskurs, einer Art Tautologie der Selbstthematisierung, so sang- und klanglos verschwinden, wie sie aufgetaucht sind – wie das Foucaultsche Gesicht im Sand unter den Wellen des Meeres. Die Aufgabe der Meereswellen werden beim Lampeschen Diskurs die Pinsel der Anstreicher übernehmen. Das Phänomen Frank Lampe, das jahrelang als diskursives Gespenst dort durch die Hamburger Universität geisterte, wo sie noch ausschließlich männlich ist, wird unter der Dispersionsfarbe verschwinden wie ein Strichmännchen an der Wand. Joachim Frisch

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