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Bei Rückführers daheim Von Thomas Gsella

Hurra, wir leben alle rund sechsmal. Erfahren habe ich's von Frau Geisterseherin Ruth Kaiser. Nein, kein Flunk. Vor gerade zwei Wochen annoncierte sie in einer Zeitung „Wahrsagerei und Rückführungen“.

Ich vereinbarte einen Termin und saß ein paar Tage später in ihrer Wohnung. Leider war es insgesamt verwirrend, teils aber auch prima.

Wir rauchten. Doch nach den ersten Zügen drückte Frau Kaiser ihre Zigarette wieder aus und sagte: „Ich soll ja eigentlich nicht rauchen. Der Boß hat es mir verboten.“

„Boß? Für wen arbeiten Sie denn?“ Still wies die Gefragte auf eine an der Wand hängende Jesus-Radierung. Dann lächelte sie: „Eigentlich ist der Boß blond. Nein, wirklich; ich weiß doch, wie er aussieht. Vor etwa einem Jahr ist er mir erschienen. Zuerst nur bis zu den Oberschenkeln, aber irgendwann war er dann ganz da.“

„Und nun leben Sie mit ihm?“

Drei Seraphime leuchten in der Krone eines sehr guten Reporters: Kürze, Uneitelkeit, Gefaßtheit.

„Ich lebe“, sagte die Kaiser, „hier mit ihm, ja. Und wenn ich unterwegs bin, kommt er mit. Neulich bot mir ein Freund einen Asbach an. Aber der Boß hat mir Alkohol verboten. Also fragte ich den Boß – bei solchen Gelegenheiten steht der Boß ja immer direkt neben mir – und sah, wie er den Asbach segnete. Er hat bei der Gelegenheit wohl auch noch Alkohol hinzugefügt; jedenfalls war ich danach rotzblau. Aber bitte: Schreiben Sie das bloß nicht!“

„Wovor haben Sie Angst, Frau Kaiser?“

Statt einer Antwort warf sie einen sorgenvollen Blick auf die Radierung, atmete dann aber auf. „Alles okay; Sie dürfen es schreiben. Er hat mit den Augen geknipst.“

„Frau Kaiser, Wahrsagerei und Rückführungen, wie lernt man so was?“

„Sie spüren irgendwann, daß Sie es können. Der Rest ist dann ein Kinderspiel. Das hier zum Beispiel“ – sie griff nach dem Verschluß einer handelsüblichen Karaffe – „ist meine Kristallkugel. Die Bilder sind leider etwas kleiner, zackiger, aber immer noch deutlich genug.“

„Bitte, zeigen Sie mir was! Zeigen Sie mir... mein früheres Leben?“

„Oh, dazu fehlt uns doch etwas Zeit. So eine richtige Rückführung braucht Vorbereitung. Aber ich... warten Sie...“ Stumm lehnte sich die Geisterseherin zurück, ihre Augen fielen zu, und zwei Minuten kam rein gar nix. Dann folgte ihr Bericht: „Herr Gsella, Sie waren früher eine Nonne. Eine spanische Pflegenonne. Jawohl, 17. oder 16. Jahrhundert. Sie arbeiteten in einem katholischen Waisenhaus für lungenkranke Kinder, die Kleinen alle um Sie herum. Manchmal brauche ich den Karaffendeckel überhaupt nicht.“

„Spitze. Frau Kaiser. Wie oft werde ich noch leben?“

„Ach, das wissen Sie nicht?! Sie leben noch vier- bis fünfmal. Das ist so eine feste Regel.“

Soweit die Essenz der Recherche. Gewiß sind spannendere Themen denkbar. Aber immerhin: Einst war ich eine Lungennonne. Und auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden das warme Licht der Welt noch durchschnittlich dreimal erblicken. In diesem Sinne: Auf Wiedersehen.

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