: Impulse auf den Stimmbändern
■ Zum Schluß von „Glocke vokal“wurden seltsame Texte peppig
Die Texte sind überholt. Sie fußen auf naiv eingängigen, teilweise schwülstigen Volksdichtungen aus dem Magyarischen, Russischen und Polnischen. Und sie rufen die Frage hervor, ob man die ersten Lieder „Liebeslieder – Walzer für Klavier zu vier Händen“op. 52 von Johannes Brahms heute noch aufführen kann. Denn die Gattung, der Brahms diese Texte anvertraut hat, ist nur noch aus dem damaligen soziologischen Kontext verstehbar: Das gesellige Musizieren zu vier Stimmen mit Klavier. Jedoch haben die SängerInnen Juliane Banse, Ingeborg Danz, Christoph Prégardien, Thomas Quasthoff und die beiden Pianisten Michael Gees und Wolfram Rieger beim letzten Konzert des Zyklus „Glocke vokal“in der Glocke diesen ersten Eindruck ganz schnell weggesungen und weggespielt.
Denn es war einfach perfekt, wie die vier hier ohne jegliche Eitelkeiten die Homogenität der Vierstimmigkeit zum obersten Ziel machten, wie gemeinsam geatmet und gefühlt wurde: Kammermusik, wie sie sonst nur im Streichquartett zu hören ist. Gleichzeitig gingen die Individualitäten der SpielerInnen nicht im Gemeinsamen unter, und um diesen Ausgleich ging es. Das scheint nicht ganz selbstverständlich, denn alle haben solistisch einen überragenden Namen. Diese Art von Musizieren, die das Unterordnen und das überempfindliche Hören auf den/die anderen erfordert, muß den SolistInnen Spaß machen, und genau das hat sich an diesem Abend wie das Charisma einer Gruppe übertragen.
Brahms' wundersame Texte wurden immer aktueller, je mehr die musikalische Struktur – der Verbindung der Texte über die Differenzierung des Walzers – die Oberhand über scheinbar Überholtes gewann. Lebenslust und Tod, Ironie und Trauer, Wut und Verzweiflung – die Wiedergabe dieses Quartetts – bzw. Sextetts, denn die beiden Pianisten begleiteten nicht nur, sondern waren aufregende und entscheidende Impulsgeber – rief zu Recht Begeisterung im spärlich gefüllten Saal vor und provozierte einen Beifall, wie er in keinem Verhältnis zu den wenigen ZuschauerInnen stand. Nicht nebenbei: warum gelingt es bei den zahlreichen Initiativen in Bremen nicht, wenigstens mal Termine abzusprechen: Zeitgleich lief im Dom Mozarts Requiem unter Wolfgang Helbich.
Gelungen auch die zahlreichen Sololieder im Zyklus op. 65 mit dem Namen „Neue Liebeslieder“von Johannes Brahms, gelungen die morbide und gleichzeitig lustvolle „Italianita“bei den beiden Liedern von Giacchino Rossini, und gelungen auch die eher sinfonisch dramatischen Quartette des einzigen Brahms-Schülers Gustav Jenner. Der Geschäftsführer der Glocke GmbH, Andreas Schulz, hat mit seinem Zyklus zwar unterschiedliche Besucherzahlen erreicht – im Unterschied zu diesem Konzert war Cecilia Bartoli ausverkauft –, aber Liederabende mit einem Raritätenrepertoire sind derart selten, daß man Geduld haben muß. Dieses Konzert jedenfalls war nichts weniger als ein Ereignis.
Ute Schalz-Laurenze
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