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Die Litanei der Tage

■ Letzte „Tintenkleckse“: Monsieur Pinget notiert nichts mehr

Und die Jahre gehen vorbei. Was tun, um sie zu überwinden? Eine Zeile und noch eine Zeile. Dabeibleiben, koste es, was es wolle.“ In diesem Sommer ist das ewige Gemurmel von Monsieur Traum verebbt. Monsieur Traum alias Monsieur Mortin alias Monsieur Pinget ist tot, sein letztes Notizheft war gerade gedruckt. Robert Pinget, am 19. Juli 1919 in Genf geboren, gilt wie Butor, Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute als Vertreter des Nouveau roman. Aber seine Bücher sind ironischer, humorvoller, vor allem lesbarer.

Pinget erfand die geräuschvoll arbeitende Gerüchteküche einer kleinstädtischen Provinz. Ein unaufhörlich zischelndes, geiferndes, klatschendes Städtchen: naturgetreu, aber beleibe nicht realistisch, wehrte Monsieur Pinget ab. Er hasse Realismus. Seine ganze Personage sei ausgedacht: der Villenbesitzer, sein Sekretär oder Geliebter (wie hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird), der greise Hausdiener, Neffen und Nichten, die unentbehrliche Haushälterin – alle erfunden. Aber zufällig denkt Monsieur Mortin genau über die Dinge nach, die uns alle beschäftigen. Die Unsäglichkeiten, die man sich antut im Lauf des Lebens, warum man sich antut, was man nicht tun wollte, schon gar nicht tun sollte. Und endlich, warum man, langsam dem Zerfall zutreibend durch die Litanei der Tage, das auch noch aufschreibt.

„Es gibt kein Leben jenseits des Schreibens“, erwidert Pinget den ihn um biographische Details bestürmenden Journalisten. „Außerhalb des Schreibens ist der Tod“, denkt einer in „Le Fiston“ („Keine Antwort“), dem Buch, das 1959 den Beginn eines neuen, unverwechselbaren Stils markierte. Ein alter Mann schreibt an seinen Sohn. Es ist „Das Söhnchen“, das nicht antwortet. M. Levert hat kein Vertrauen in die Post, keines in seine Briefe. Er schickt sie nicht ab. Hatte er jemals einen Sohn?

In jedem Roman betreten wir das virtuelle Labyrinth durch eine andere Tür – wenn wir jemals herausgefunden haben sollten. 1982 gab Pinget seine in 20 Jahren angesammelten Notizen heraus, die er zu seiner Entspannung neben der eigentlichen schriftstellerischen Arbeit angefertigt hatte. M. Traum, so nannte der Autor sein Alter ego, reflektiert das Schreiben, die Bedingungen und Versäumnisse des Alltags, seines Lebens in einem federleichten Meta- Text. Auf der ersten Seite von Monsieur Traums letztem Notizheft entschuldigt sich der Autor. Warum? Die boshafte, heitere Stimme von Monsieur Traum ist schwach geworden. Nur dann und wann übertönt der ironische Alte noch einmal seinen Schöpfer, der heftig um jede Sentenz kämpft. Alter ego und Autor sind eins geworden in „der Qual des Schreibens, Qual des Nichtschreibens, Qual des Schlafens, Qual des Nichtschlafens. Qual des Sterbens“. Vielleicht wären diese letzten, belanglosen Blätter besser ungedruckt geblieben. Barbara Oetter

Robert Pinget: „Tintenkleckse. Monsieur Traums letztes Notizbuch“. Aus dem Französischen von Gerda Scheffel. Wagenbach, Berlin 1997, 64 Seiten, 48 DM

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