: Die Reform ist wohl getan, aber wohlgetan ist sie nicht
■ betr.: „Schlagabtausch um die Rechtschreibung“, taz vom 13. 5. 98
[...] Schrift ist nicht zum Schreiben da. Wenn es so wäre, könnte tatsächlich jeder schreiben, wie er will, und alle Rechtschreibprobleme wären gelöst. Sie ist aber zum Lesen da. Daher sind Rechtschreibregeln nicht deshalb kompliziert, um Schüler schikanieren zu können, sondern um das Lesen so eindeutig und leicht wie mögich zu machen. [...]
Erschwert wird das Lesen zunächst durch die Abschaffung des ß nach kurzem Vokal: Wörter wie „Schussserie“ und „Schlossserenade“ sind nun einmal schlechter zu lesen als mit dem lesefreundlichen ß. [...] Erschwert wird das Lesen durch die nunmehr beliebigen Trennungen. „Wenn Tee-nager alla-bendlich Obst-ruktion betreiben...“ (H. Maier)
Nur ein sehr geringer Prozentsatz von Wörtern sei betroffen, so die Reformer (warum dann das starre Beharren auf der ungeliebten Maßnahme?) Wenn in einem Konzert 0,5 Prozent aller Töne falsch sind, tut man gut, es noch vor der Pause zu verlassen. Wenn ich in einer Erzählung auf den folgenden Satz stoße: „Zu Weihnachten schlachteten sie eine Gans und den kleinen Sohn des Nachbarn“, dann ist meine Lesestimmung erst einmal hin, auch wenn ich auf der folgenden Seite erfahre: „luden sie zum Essen ein.“ Lese ich gar: „Er liebte Amalie und Luise und Gerda hatte er vergessen“, dann hat sich zwar der Schreiber reformgerecht ein Komma gespart, mir aber jegliches Verständnis verschlossen. [...] Das Verständnis wird in sein Gegenteil verkehrt durch neue Großschreibungen. „Ein Mann wie Lessing täte uns Not“, soll Goethe nunmehr gesagt haben. Gut also, daß Lessing tot ist. Gemeint hat Goethe allerdings, daß er uns not täte, also nötig wäre, zum Beispiel im Kampf gegen die Verhunzung der deutschen Sprache. [...] „Was die Akten betrifft, bleibt alles beim Alten.“ Da hat sich der Alte wohl wieder alles auf seinen Tisch gezogen? Gemeint ist, daß alles so bleibt, wie es ist, also beim alten bleibt. [...] Umgekehrt werden durch neue Kleinschreibungen Mißverständnisse hervorgerufen. Leiste ich jemandem nur „erste Hilfe“, genügt ein Schluck Wasser, zur Ersten Hilfe gehört wohl mehr. [...]
Die geplante Freigabe einiger Schreibungen hat ganz praktische Folgen: Wer bei längeren Texten am Computer ein Suchprogramm startet, muß nun alle Schreibweisen eingeben: die Flußschiffahrt und die Flussschifffahrt und die Fluß-Schiff-Fahrt und die Fluss- Schiff-Fahrt.
Eine Rücknahme der Reform sei, so die Verursacher bisher, aus Kostengründen nicht mehr möglich. Da fährt jemand, der nicht einmal einen Führerschein besitzt, ein Auto, das ihm nicht gehört, gegen den Baum und lehnt nun die Reparatur wegen der Kosten ab. Die nunmehr geplante Rücknahme von zirka 1.000 Änderungen dürfte im übrigen die gleichen Kosten verursachen wie der vollständige Verzicht auf die sogenannte Reform.
Daß Sprache sich immer wandelt, sei unbestritten. Nur kamen diese Wandlungen bisher stets aus der Sprachgemeinschaft und wurden erst nach ihrer Durchsetzung verbindlich. Nun: Die Reform ist wohl getan, aber wohlgetan ist sie nicht. (Derartige Wortspiele sind nach der Reform nicht mehr möglich.) Es gibt nur noch einen Grund, an ihr festzuhalten: den Glauben der Kultusminister, alles, was die Obrigkeit anordne, sei von tiefer Weisheit, zu deren Einsicht das tumbe Volk nicht in der Lage ist.
Nun, der taz kann's egal sein, sie schreibt ja ohnehin mehr feministisch als deutsch. [Schön wär's. d.sin]Arno Pielenz, Cottbus
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