: „Manch rauschhafte Entdeckung“
■ Bremer Domchor zelebriert Monteverdis „Marienvesper“
Mindestens zwei Bremer Kantoren hegen eine unsterbliche Liebe zu Claudio Monteverdis „Marienvesper“: Hans Dieter Renken, dessen sehr überzeugende, räumlich konzipierte Aufführung vor einigen Monaten in der Kirche Unser Lieben Frauen erklang, und Wolfgang Helbich, der das epochale Werk jetzt nach einer Frankreichtournee im Dom präsentierte. Die „Vespro della beata vergine“ von 1610 ist heute – nachdem sie erst 1935 wiederentdeckt wurde – das meistgespielte Großwerk vor 1700. „Ich verbrachte das Frühjahr mit der manchmal rauschhaften Entdeckung Monteverdischer Harmonik“, schrieb der Komponist Hans Werner Henze 1982 in sein Tagebuch. Das trifft gut die damalige unerhörte Neuheit dieser Musik, die wie kein Epochenwechsel danach die Entwicklung radikal vorangetrieben hat. Die damalige erbitterte theoretische Fehde um die „prima prattica“ – den alten kontrapunktischen Stil – und die „seconda prattica“ – die affektgeladene solistische Ausdruckskunst – ist noch heute mit großer Spannung nachzuvollziehen.
Denn in der „Marienvesper“ erklingt dieses unerschöpfliche Kompendium der Kompositionstechniken, erklingt Monteverdis unmißverständliche Position, da es für ihn keine Trennung von geistlicher und weltlicher Musik gibt: Im Eröffnungssatz der „Marienvesper“ rauscht die Fanfare der Mantuaner Fürstenfamilie Gonzaga, die Monteverdi auch schon in seinem 1607 geschriebenen „Orfeo“ verwandt hat. Vorzuzeigen ist dies alles nur mit den Kriterien der historischen Aufführungspraxis, mit denen auch Wolfgang Helbich sich auseinandersetzt. Kompromisse sind dabei nicht ganz zu vermeiden – zum Beispiel die sicher zu große Chorbesetzung und bis auf wenige Ausnahmen die nicht vorhandene Umsetzung einer Raumkonzeption entsprechend der Uraufführung auf den Emporen der venezianischen Kirche San Marco. Helbich überzeugte mit einem Ansatz, der vor allem eins vermeiden wollte: vordergründigen Glanz. Eher still entwickelte er fast alles von innen heraus, brachte berückende Pianoebenen und stringente Aufbauten sowohl im Orchester als auch im Chor, die – teilweise bis zur Zehnstimmigkeit – wunderbar „aufgehen“.
Dieses Konzept ging auf: In glänzender und souveräner Verfassung der Chor, unterstützt durch den vielversprehenden Auftritt des „Barock Ensemble Bremen“, das sich neu zusammengefunden hat und ohne Einschränkungen überzeugte: vor allem die schwer zu spielenden Zinken und die erste Geige. Auch die SolistInnen Dorothee Mields und Bettina Pahn (Sopran), Joost van der Linden, Knut Schoch (Tenor),sowie Matthias Gerchen und Gotthold Schwarz (Bass) können gerne zusammen genannt werden, weil ihre Stimmen ungewöhnlich gut miteinander harmonierten. Eine brillante bremische Aufführung, die sich in keiner Weise hinter dem zu verstecken braucht, was das Musikfest bietet.
Ute Schalz-Laurenze
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