Der Hitlergoethefaustmephistokomplex

Projektionsfläche deutscher Selbstbilder und Erfüllungsinstanz von Bedürfnissen der Seelenhygiene: Willi Jasper untersucht in „Faust und die Deutschen“ die Wandelbarkeit einer emblematischen Figur, die der Wehrmacht ebenso diente wie der deutschen Einheit  ■ Von Lothar Baier

Es goethet und faustelt landauf, landab in Erwartung des Goethejahrs 1999 samt Herrichtung Weimars zur nationalen Pilgerstätte, die dann besänftigend supranational das Etikett „Kulturhauptstadt Europas“ tragen darf. Der vollständigen Nationalisierung künftiger Goethe-Jubiläen wird nach Abschluß der europäischen Festlichkeiten nicht viel im Wege stehen, da der Kalenderzufall Goethes Geburtsjahr 1749 und das Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 und dazu das Jahr des Mauerfalls 1989 in engsten Zusammenhang bringt. Faust als emblematische Figur deutscher Demokratie und deutscher Einheit – warum auch nicht, zumal man in Deutschland genügend Übung hat, mit Goethe und seinem Faust fast alles zu machen, was den jeweiligen seelenhygienischen Bedürfnissen entspricht.

Im Oktober 1941 durfte Faust in der Berliner Inszenierung Gustav Gründgens' den Vormarsch der Wehrmacht Richtung Moskau absegnen; 1949 suchte das trostbedürftige deutsche Nachkriegspublikum Zuspruch bei der Düsseldorfer Faust-Inszenierung desselben Regisseurs. Nach dem Vereinigungsjahr 1990 ist Goethes Faust, nach längerer Abwesenheit, bedeutungsvoll wieder unter die Abiturthemen aufgerückt. Wenn Peter Stein in den Messehallen von Hannover seinen über sieben Theaterabende verteilten Zwanzig-Stunden-Faust herausbringt, werden nicht nur Kulturbetrieb und Germanistik einen gewaltigen Brocken zu verdauen haben, auch die endlose Beziehungsgeschichte „Faust und die Deutschen“ wird dann um eine weitere Episode reicher sein.

Die Vergangenheit dieser Geschichte zu erhellen und zugleich in die versäumte grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem politischen Erbe der deutschen Klassik einzutreten, hat sich ein Buch mit dem Titel „Faust und die Deutschen“ vorgenommen, das rechtzeitig erscheint, um vor Anbruch der großen Feier zu distanziertem Nachdenken anzuhalten.

Der Autor Willi Jasper, Mitarbeiter des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums und Verfasser einer soliden Börne-Biographie, hat germanistischen Goethe-Experten voraus, daß er die bedrohlich angeschwollene Faust-Literatur auch politisch zu lesen vermag, das heißt als Ausdruck einer den jeweiligen Zeitumständen angepaßten, außerordentlich wirksamen ideologischen Modellierung deutscher Selbst- und Wunschbilder. Wie ist es zu erklären, lautet Jaspers heuristische Frage, daß sich Goethes aufs „Faustische“ reduzierte Weltbild zur Ideologie „deutscher Sonderart und deutschen Sonderschicksals entwickeln“ konnte?

Bis die volkstümliche Faust-Legende sich Goethe als Stoff darbot, hatte sie bereits erhebliche Umbauten erfahren, war um eine Rebellengeschichte ärmer und um allerlei Teufelszeug reicher geworden. Harmlose Umstellungen jedoch im Vergleich mit der Serie von Eingriffen, denen Goethes Faust im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts durch Exegese, künstlerische Bearbeitung und politische Indienstnahme unterzogen wurde.

Jaspers kenntnisreich erstellte, wenn auch gezwungenermaßen knapp ausgefallene Synopsis all dieser nachgoetheschen Faust- Modellierungen bringt die eigenartige Chemie der Verschmelzung bei gleichzeitiger Substanzentrennung zum Vorschein, die dabei ihr Werk tat. Verschmelzung von Faust und Goethe zuerst, dann von Faust und Mephisto, von Faust und Luther, von Faust und Parzifal, bis hin zu Faust und Hitler; Trennung von Faust und Goethe, von Faust und Mephisto, von Faust und Hitler, schließlich von Faust und dem „Faustischen“. Doch vollständig gelang die Trennung nie, immer blieb von den vorausgegangenen Amalgamierungen etwas erhalten. Auf diese Weise ließ sich Faust nacheinander konfessionalisieren und entkonfessionalisieren, germanisieren, nationalisieren und am Ende, in der DDR, auch noch marxifizieren, ohne daß sich nennenswerte Widerstände dagegen erhoben hätten.

Nach 1933 konnte man mit dem seit einem Jahrhundert unablässig durchgewalkten Faust ebensogut für die Nazis sein wie mit Faust gegen die Nazis und für ein „anderes Deutschland“. Den Fall des SS- Germanisten Hans Ernst Schneider aufgreifend, der sich nach der Entmachtung seiner Auftraggeber die neue Haut eines Hans Schwerte überzog und sich später mit seiner Habilitationsschrift „Faust und das Faustische“ in der bundesdeutschen Germanistenwelt als zeitgemäß ideologiekritischer Liberaler eine komfortable Position verschaffte, zeigt Jasper am Text des wendigen Germanisten, wie die erprobte Faust-Chemie auch diesen Stellungswechsel zu bewältigen half. Aus Bruch wurde fließender Übergang, der Schneiders nationalsozialistische Lesarten in Schwertes Nachkriegs- Exegesen überdauern ließ.

Thomas Mann etwa hatte dem in Himmlers Firma „Ahnenerbe“ beschäftigten Schneider auftragsgemäß als Kreatur „jüdelnder Teerunden“ gegolten; in den Augen des Nachkriegsgermanisten Schwerte verdiente der Verfasser des „Doktor Faustus“ unter anderem deshalb schweren Tadel, weil er dem Unterfangen, das dem Faust-Deuter Schwerte so sehr am Herzen lag, entgegenarbeitete: nämlich den Klassiker Goethe von jeglicher Verantwortung für die Fabrikation des „Faustischen“ und dessen ideologische Nutzanwendungen zu befreien.

Mit seinem Roman „Verrat an Goethe“ begangen zu haben wurde Thomas Mann Ende der vierziger Jahre überhaupt von großen Teilen der Kritik vorgeworfen. Gemeint war damit eigentlich Verrat an Deutschland, begangen an jenem chamäleonartigen Deutschland, das Hitlers Reich überlebte und es zugleich einschloß. Jasper weist in diesem Zusammenhang auf kuriose Parallelentwicklungen im deutschen Westen und im deutschen Osten hin: Während Thomas Mann dafür Prügel bezog, daß er den tröstenden Faust wegnahm und in den deutschen Höllensturz mit hineinriß, mußten Brecht und Eisler in der DDR sich darüber belehren lassen, daß ihr entmythologisierendes Herumkratzen am fortschrittlichen Nationalhelden Faust unerwünscht ist, weil es nur der Beförderung „bürgerlicher Dekadenz“ diene. Gesamtdeutsches Abfeiern von Faust und Goethe ist demnach auf beiden Seiten von langer Hand vorbereitet worden.

Karl Jaspers' 1947 bei der Entgegennahme des Goethe-Preises gestellte Frage, ob „Bildung durch Goethe nicht teilweise ein Verhängnis gewesen sei“, wirkt fünfzig Jahre später seltsam deplaziert. Bildung durch Goethe ist wieder „in“, die Klassik erfreut sich auch bei einstmaligen Verächtern steigender Wertschätzung, für Faust- Inszenierungen wird mit der Modevokabel „Mensch in der Sinnkrise“ geworben. Willi Jasper fragt am Ende seines solche Klassikerseligkeit durch genaue Erinnerung nützlich störenden Buchs „Faust und die Deutschen“ nach dem verborgenen Subtext der gegenwärtigen Renaissance epigonaler Bilder aus der deutschen Vergangenheit und kommt zu einem beunruhigten Fazit.

Die Idee „faustischer Geistigkeit“, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts in den Köpfen festsetzte, war von Anfang an gegen die Aufklärung französischer Prägung gerichtet gewesen und diente später dazu, den kritischen Intellektuellen als undeutschen Eindringling zu vertreiben. In der gegenwärtig wiederauflebenden antiintellektuellen Stimmung verliert das Anpreisen faustischer Sinnkrisen seine bloß kulturbetriebliche Unschuld. Für Jasper gibt der wiederaufgetauchte Faust geradezu den Prototyp des „Gegenintellektuellen“ ab, der, etwa in der Gestalt des Dramatikers Botho Strauß, das Publikum mit mannhaften Bekenntnissen zu Staat, Nation und ewig deutschen Werten zu erbauen beliebt. „Die Grauzone zwischen gebildetem Konservativismus und gewöhnlichem Rechtsextremismus“, meint Jasper, breitet sich aus. Ist Thomas Mann auf dem Weg zurück von dem desillusionierten „Doktor Faustus“ zu den frühen deutschnationalen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, die Manns späteres Werk zu dementieren sich anstrengte? Willi Jaspers in dem lesenswerten, stoffreichen Buch „Faust und die Deutschen“ vorgetragene Warnungen verdienen es, ernstgenommen zu werden, gerade weil sie nicht in die vorherrschende Stimmung passen.

Willi Jasper: „Faust und die Deutschen“. Rowohlt Berlin, Berlin 1998, 304 Seiten, 42 DM