: Die Erotik der Melone
■ Irina Pauls hat am Oldenburger Theater mit „Jedermann“ ein sinnliches Tanztheaterstück über die Allgegenwart des Todes inszeniert
Das Leben ist praller Genuß, ist fruchtig fleischige Lust, ist pures Jetzt im ständigen Flirt mit dem Tod. Mit „Jedermann“ bedient sich die Oldenburger Ballettdirektorin Irina Pauls – in Wiederaufnahme ihrer Leipziger Inszenierung von 1997 – dichter allegorischer Bilder, die den Tableaus Pieter Breugels entsprungen scheinen.
Anhand des mittelalterlichen, moralisierenden Stoffes des „Everyman“ verwebt die völlig neu bearbeitete Oldenburger Fassung historische Motive im Tanz und in der Musik mit avantgardistischen Elementen.
Madrigale Gesänge des „Bremer Barock Consorts“ (live), Bewegungsvokabular Wigmannscher Prägung, aber auch Griffe zu drastischer Bildsprache, Tanzelemente des Menuettes und sparsame Kompositionen von Marcus Ludewig (Oldenburg), die in ihrer Kargheit stockende Zeitinseln entstehen lassen. Ein gelungenes Wagnis, dieses Spannungsverhältnis, mit dem die Choreographin gerade die überzeitliche Gültigkeit des Motives andeuten will: Jedermann erschöpft sich in der Jagd nach sinnlichen Genüssen und materiellen Erfahrungen, um dem Angesicht des Todes zu entrinnen.
An einer riesigen drehbaren Tafel, die zugleich Rampe und Uhrzeiger ist, werden pralle Melonen geschlachtet. Ihr Fleisch ist Fraß und dient zugleich der Abreibung lüsterner Körper, die triefend glänzen – in fruchtfarbenen Plisseekleidern. Eine Szenerie draller Sinnlichkeit, in der jeder um jeden buhlt und sogar der Tod nach den Brüsten greift. Der charismatische Marcin Baczyk – im schwarzen Plisseegewand einem dunklen Engel gleich – schwebt mit wissender, leicht sarkastischer Miene in unwirklicher Eleganz durch die Szenen.
Die urmotivische Nähe von Eros und Thanatos wird in dieser Ausstrahlung viel deutlicher als deren gegenseitige Bedingtheit lesbar: Erst durch die Allgegenwart des Todes muß das Leben genossen werden. Jedermann tanzt sein Ich bis in den Exzeß, bis die Körper nur noch in spastisch zuckender Macke über die Bühne zappeln, verkrüppelte Krücken des Ego. Nuria Martinez als Buhlschaft des Jedermann (Marco Antonio Queiroz) überzeugt gerade in diesen exaltierten Szenen mit geradezu existentiell anmutender Präsenz.
Und es ist dem Gewicht dieser Bilder zu verdanken, daß der Aufruf zur Umkehr aus dem Mund des Klausners (Werner Ailts) und des Gotteskindes (Jan Hendrik Esen) die Inszenierung nicht noch mit einem antiaufklärerischen Touch versieht, sondern einen Spalt für den Blick auf das ewigmenschliche Drama öffnet. Am Ende nämlich schließt der Tod auch die feenhafte, jungfräuliche Unschuld (mit lautloser Leichtigkeit: Martina Morasso) in seine schwarzen Schwingen, liebkosend und zärtlich. Ein versöhnliches Bild. Marijke Gerwin
Weitere Aufführungen: 26.2., 8., 17. und 25.3. sowie am 9. April um 19.30 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen