Unterm Strich

Das Motto der architektonischen Moderne, form follows function, ist mit der Pariser Nationalbibliothek von den Füßen auf den Kopf gestellt: Ästhetik soll über jede Menge Konstruktionsfehler und technische Pannen hinwegtrösten. So jedenfalls argumentiert der Planer der Dauerbaustelle, Dominique Perrault, wenn er sich auf die ästhetischen Qualitäten seiner Türme beruft. Doch auch sie erwiesen sich unverträglich mit den ihnen zugedachten Aufgaben. Um die Bücher vor einfallendem Tageslicht zu schützen, mußten nachträglich Beschichtungen und Holzläden angebracht werden. Nun hocken die Leser bei Neonlicht und störanfälliger Klimaanlage über den Büchern, sofern die Informatik sie überhaupt herausgegeben hat. Kaum vier Jahre nach Inbetriebnahme müssen die Türme in den nächsten zwei Jahren eine „Verjüngungskur“ erhalten.

Vielleicht könnte der deutsche Osten ein Beispiel zur Problemlösung bieten? Dort, in Frankfurt an der Oder, erhielt Intendant Manfred Weber von Oberbürgermeister Wolfgang Pohl die Weisung, die „Schließung des Kleist Theaters zum 31. Juli 2000 vorzubereiten“. In der Geburtsstadt Kleists würde damit eine Theater-Ära zu Ende gehen, die mit der Uraufführung von Lessings Trauerspiel „Miß Sara Sampson“ vor fast 250 Jahren begann.

Mit dem Theater, in dem Schauspieler wie Ekkehard und Johanna Schall auf der Bühne standen, ging es seit der Wende bergab. Die einstigen Erfolge sind vergessen, darunter Uraufführungen guter DDR-Dramatik, die Inszenierungen von Frank Castorf, Leander Haußmann, Andreas Kriegenburg und Armin Petras.

Trotz der aktuellen Situation wird in Frankfurt am Kleist Kultur- und Kongreßzentrum weitergebaut. Ursprünglich sollte es das Kleist Theater beherbergen. Der mit EU-Geldern finanzierte 70 Millionen Mark teure Bau wird 2001 eröffnet. Zur Grundsteinlegung 1998 hatte Kulturminister Steffen Reiche betont, „wer hier ein Theater baut, wird auch ein Ensemble haben wollen, das dieses Theater bespielt“. Vom Kleist Theater war da schon keine Rede mehr. Auch der Oberbürgermeister favorisiert inzwischen ein freies Kleist-Ensemble. „Erst kaufen sie neue Schuhe, und dann hacken sie die Füße ab“, beschreibt ein Schauspieler die Situation.

Trotzdem: Die Probleme der deutschen Theater sind nicht finanzieller Natur, meint Kulturstaatsminister Michael Naumann. „Deutsches Theater, das sich mit zentralen gesellschaftlichen Fragen beschäftigt, gibt es nicht“, sagte der SPD-Politiker bei der Gesprächsrunde „Abschied von der Kulturnation?“ anläßlich des 18. Theatertreffens in Nordrhein-Westfalen.

Die Kritik des Intendanten am Wuppertaler Schillertheater, Holk Freytag, der die einzige Lösung der deutschen Theaterkrise in mehr „Mäzenatentum“ sieht, wies Naumann zurück. Deutschland sei weltweit die sich kulturell am stärksten selbstsubventionierende Gesellschaft.

Und noch mehr Theater ums Theater: Vor der heutigen Uraufführung des umstrittenen Handke-Stücks „Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg“ am Wiener Burgtheater äußerte der Schauspieler Robert Hunger-Bühler Bedenken wegen der erwarteten Medienreaktionen.

Er befürchtet, „daß man durch das Dickicht des Medienrummels den Blick auf das Stück nicht mehr freikriegt“. Wo das Stück nach Meinung von Burgchef Claus Peymann doch ein „hochkomplexes, sehr vielschichtiges Gebilde“ ist. Peter Handke jedenfalls wird zur Uraufführung in Wien erwartet. Denn was wäre der Mann ohne das Dickicht des Medienrummels? Ohne das Mißverständnis?