Zuletzt wird Raoul Wallenberg in Budapest gesehen – am 17. 1. 1945. Der schwedische Gesandte ist auf dem Weg ins sowjetische Hauptquartier. Wird er dabei erschossen? Starb er 1947 an Herzschlag, wie eine Urkunde belegt? Häftlinge haben ihn noch Jahrzehnte später in Lagern getroffen – ein Mysterium. Sicher ist heute nur: Wallenberg hat 100.000 Juden vor den Nazis gerettet. Von Reinhard Wolff

Der Diplomat, der verschwand

Budapest, 13. Januar 1945. Unter dem Befehl von Marschall Malinowski erobern Sowjettruppen der Heeresgruppe „Zweite Ukrainische Front“ den Ostteil der ungarischen Hauptstadt. Vor einem Gebäude mit einer großen schwedischen Flagge über dem Eingang erwartet sie ein einzelner Mann. Er stellt sich vor: Gestatten, Legationsrat Raoul Wallenberg, schwedischer Geschäftsträger für die von den Sowjets befreiten Teile Ungarns.

Vier Tage danach, am 17. Januar, fährt Wallenberg mit seinem Chauffeur Vilmos Langfelder ins Hauptquartier General Malinowskis nach Debrecen, einige Kilometer östlich von Budapest. Begleitet wird er von zwei sowjetischen Offizieren. Auf seinem Weg läßt er in der Stadt noch kurz an mehreren Häusern und einem Hospital halten. Er hat Geld dabei, das er verteilt. Einem Bekannten sagt er, er werde vermutlich in einer Woche zurück sein. Er wisse nicht genau, ob er „Gast oder Gefangener“ der Sowjets sei.

Seitdem ist Raoul Wallenberg verschwunden.

Am 6. Februar 1957 teilt Moskau dem schwedischen Außenministerium mit, man habe ein Dokument gefunden, das sich vermutlich auf Wallenberg beziehe. Datiert vom 17. Juli 1947, unterzeichnet vom Chef des Gefängniskrankenhauses der Lubjanka: „Der Gefangene Wallenberg ist letzte Nacht in seiner Zelle verstorben. Todesursache: Herzinfarkt.“ Gutachten halten das Dokument in einem Punkt für echt: Papier und Tinte sind aus dem Jahre 1947. Schriftvergleiche weisen als Verfasser den 1953 verstorbenen Lubjanka-Chefarzt Smoltsow aus.

Die 1953 eingeweihte Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, mit der der sechs Millionen Juden gedacht werden soll, die von den Nazis ermordet worden sind, durchzieht eine „Allee der Gerechten“. 600 Bäume sind gepflanzt zum Gedenken an die, die ihr Leben riskierten oder opferten, um Juden zu retten. Ein Baum trägt den Namen von Raoul Wallenberg.

Wer war dieser Mann?

Der Sohn aus einem Familienverband, dem in Schweden ein Wirtschaftsimperium gehört, wie in Deutschland allen Flicks und Krupps zusammen, war Ende 1944 zum Ersten Sekretär der schwedischen Gesandtschaft in Budapest ernannt worden. Wenige Wochen vorher hatten die USA einen „Kriegsflüchtlingsausschuß“ („War Refugee Board“) gegründet, dessen primäre Aufgabe es sein sollte, Juden vor den Nazis zu retten. Die Alliierten konnten 1944 nicht mehr die Augen vor den detaillierten Informationen verschließen, die sie über die Vorgänge in den deutschen Konzentrationslagern erhalten hatten.

Nach der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen war an Obersturmbannführer Adolf Eichmann der Auftrag ergangen, das Land „judenfrei“ zu machen. Anfang 1944 lebten in Ungarn noch 700.000 Juden. Als Raoul Wallenberg im Juli in Budapest ankommt, sind unter dem Befehl Eichmanns bereits 400.000 davon in Todeslager deportiert. Die schwedische Gesandtschaft versucht, die Rettung für die bedrohten Juden in die Wege zu leiten.

Raoul Wallenberg stürzt sich engagiert in diese Aufgabe. Juden, die – angeblich – besondere familiäre Kontakte zu Schweden hatten, werden „Schutzpässe“ ausgestellt. Mit diesen erklärt das Königreich die bevorstehende „Repatriierung“ des jeweiligen Inhabers. Erst waren es monatlich einige hundert, später Zehntausende.

Die Abteilung der schwedischen Botschaft in Budapest, die mit der Ausstellung der Pässe befaßt ist, beschäftigt zeitweise 340 Mitarbeiter. Die ungarischen Behörden und die deutschen Besatzungstruppen akzeptieren erstaunlicherweise diese Pässe und behandeln die Inhaber wie schwedische Staatsbürger. Selbst den Judenstern müssen sie nicht mehr tragen.

Im Oktober 1944 verschlechtert sich die Situation für die jüdische Bevölkerung dramatisch. Die deutschen Besatzer setzen Ministerpräsident Horthy ab und lassen den Führer der faschistischen Pfeilkreuzler, Szálasi, eine Regierung bilden. Wallenberg beginnt in Budapest „schwedische Häuser“ zu eröffnen – bald mehr als 30 Gebäude, die er zu schwedischem Territorium erklärt. Zeitweise halten sich 15.000 Menschen in ihnen auf und sind vor den SS-Trupps sicher.

Nicht immer kommt die Hilfe so früh. Manchmal klettern Wallenberg und seine Mitarbeiter über die Dächer von Güterwaggons in den Bahnhöfen von Budapest. Eingesperrte Juden warten hier auf die Deportation. Wallenberg wirft Schutzpässe bündelweise in die Wagen – die Papiere tragen seine Unterschrift. Wer einen Paß erwischt, kommt frei, darf die zur Abfahrt bereitstehenden Todestransporte wieder verlassen.

Als die Sowjets im Januar 1945 Budapest einnehmen, befinden sich 120.000 Juden noch am Leben. Wie viele davon ihre Rettung Raoul Wallenberg verdanken? Etwa 100.000.

Was aber konnte Moskau veranlaßt haben, diesen Mann gefangenzunehmen und – vermutlich – zu ermorden?

Hatte man Wallenberg in Verdacht, ein Agent des US-Geheimdienstes zu sein? Unter Wallenbergs Federführung war zusammen mit der US-Regierung ein wirtschaftlicher Hilfsplan für die überlebenden Juden für die Nachkriegszeit erstellt worden.

Versuchten die Sowjets, Wallenberg zu ihrem Agenten zu machen? Ließen sie ihn verschwinden, als dies mißlang? Ermordet mit einer Giftspritze, wie ein Ex- Spion Stalins 1994 behauptet?

Oder wurde Raoul Wallenberg Opfer von Sippenhaft? Die Wallenbergs pflegten beste Kontakte zu Nazideutschland. Ihre Unternehmen waren eine wichtige Stütze der deutschen Kriegswirtschaft: Sie verhalfen Krupp, Bosch und der IG Farben über Scheinfirmen zu Geschäften im Ausland.

Und dann ist da die neue Theorie: Wallenberg als Opfer des schwedischen Pronazismus. Das offiziell neutrale Schweden war auch im Zweiten Weltkrieg alles andere als neutral. Die deutschen Waffenschmieden etwa erhielten ungehindert Eisenerz aus den nordschwedischen Gruben. Mehr als 100.000 Soldaten der Wehrmacht, Waffen und Munition wurden über das Gleisnetz der schwedischen Eisenbahn zu den Fronten in Norwegen und Finnland transportiert.

Raoul Wallenberg repräsentierte in Ungarn nicht nur die Interessen seiner eigenen Bürger. Über sogenannte „B-Abteilungen“ vertraten mehrere neutrale Staaten in den kriegführenden Ländern deren jeweilige „Feindstaaten“; Schwedens Botschaft in Ungarn etwa die Interessen der Sowjetunion. Eine Hauptaufgabe war, sich um das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener in Ungarn zu kümmern.

Wallenbergs Chef, Botschafter Danielsson – ein Nazifreund –, stellte dazu persönlich zwei Mitarbeiter ein. Ausgerechnet den Deutschen Hermann Grossheim- Krisko, dem er als angeblichen Norweger „Henry Thomsen“ eine neue Identität verschafft hatte. Und einen russischen Grafen und persönlichen Freund: Michael Tolstoi-Kutusow. Er wurde nach der sowjetischen Besetzung Ungarns Abteilungsleiter bei der russischen Geheimpolizei und war vermutlich schon während seines Dienstes für Schweden sowjetischer Agent.

Die schwedische Botschaft kümmerte sich in Ungarn nicht nur um die Rettung von Juden. Der Botschaftsangehörige „Henry Thomsen“ wurde vom sowjetischen Gegenspionagedienst „Smersj“ am 17. März 1945, exakt vier Monate vor Wallenbergs angeblichem Todestag, über die Tätigkeit der „B-Abteilung“ der schwedischen Botschaft verhört. Vor kurzem fand die Historikerin Helene Carlbäck Isotalo das Protokoll in einem Moskauer Archiv.

Thomsen alias Grossheim berichtet da von einer umfassenden Tätigkeit der schwedischen Botschaft beim Schutz für Nazis, ungarische und italienische Faschisten und russische Emigranten vor der heranrückenden Roten Armee. Die Botschaft habe große Mengen von Dokumenten ausgestellt, um „der Sowjetunion feindlich eingestellte“ Personen außer Landes schaffen zu können, beziehungsweise diesen durch eine neue Identität ein Bleiben in Ungarn ermöglichen zu können. Grossheim: „Für die Ausstellung von Dokumenten wurden teilweise ansehnliche Geldsummen bezahlt.“ War es dieses Bild, das man in Moskau von der Tätigkeit der schwedischen Botschaft in Budapest hatte – haben mußte?

Vergangenes Jahr gab Washinton 600 Dokumente zum Fall Wallenberg an Schweden weiter. Auf 563 davon drückte Stockholm prompt den Stempel „Geheim“. In einem der 37 freigegebenen Dokumente äußert im März 1945 das alliierte Hauptquartier in Süditalien in einem Memorandum an Washington die Vermutung, die „Pro- Nazi-Zusammenarbeit“ Wallenbergs sei wohl in Moskau bekanntgeworden. In anderen Dokumenten gibt es deutsche Hinweise auf enge Beziehungen zwischen dem CIA-Vorläufer OSS und Wallenberg.

Erstaunlich: Stockholm zeigte nach Kriegsende kein großes Interesse, das Verbleiben Raoul Wallenbergs aufzuklären. Man begnügte sich mit einer Vorsprache bei der sowjetischen Botschafterin Alexandra Kollontai. Die riet, um die Sache möglichst wenig öffentliches Aufheben zu machen – und wurde wenige Tage später von Stalin nach Moskau abberufen.

Trotzdem wurde der Verschwundene zum Mythos. Bis in die siebziger Jahre kamen aus den Gulags abenteuerliche Geschichten: Immer wieder erzählten freigelassene Gefangene, sie hätten in den Lagern einen weißhaarigen, alten Schweden getroffen; einigen soll er seinen Namen genannt haben: Raoul Wallenberg.

Lars Berg, angestellt bei der „B-Abteilung“ in Budapest, veröffentlichte 1949 eine Augenzeugenschilderung unter dem Titel „Was geschah in Budapest?“. Mit deutlichen Hinweisen auf fragwürdige Aktivitäten der Botschaft und die Hintergrundrolle des OSS bei Wallenbergs Mission. Die gesamte Auflage wurde aufgekauft und verschwand, bevor sie in die Buchhandlungen gelangte. Seltsam: Trotz dieses „Verkaufserfolgs“ verzichtete der Verlag auf eine Neuauflage.

Bemerkenswert: 1952 veröffentlichte die Stockholms Tidningen einen Artikel, dem man mit heutigem Wissensstand deutliche Bezüge auf Grossheims Verhöraussagen gegenüber dem sowjetischen Geheimdienst entnehmen kann. Das Außenministerium rief damals sofort die Chefredakteure aller großen schwedischen Zeitungen zusammen und bat sich absolutes Schweigen zu diesem Thema aus. Die Presse gehorchte.

Der Schlüssel zum Wallenberg- Mysterium, so scheint es, liegt nicht in Moskau, sondern in Stockholm selbst.