War‘s Zelt oder Glockenturm?

Gerichtsposse um Mahnwache nach Räumung der Wagenburg in der Waldemarstraße im Herbst 1993 / Vierzig Selbstbezichtigungen  ■ Von Barbara Bollwahn

Manchmal haben Gerichtsverhandlungen einen großen Unterhaltungswert. Die gestrige Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten gegen „Schwester Maria“, „Bruder Kamillo“ und Andreas N. war so eine. Ganz nach dem Motto „heiteres Begrifferaten“ versuchte das Gericht unter reger Anteilnahme der etwa dreißig Besucher, den Unterschied zwischen einem Zelt und einem Glockenturm zu klären.

Doch wie so oft bei Gerichtspossen, ist auch der Anlaß dieses Prozesses weniger zum Lachen: Nachdem im Oktober 1993 mit großem Polizeiaufgebot die Wagenburg an der Waldemarstraße geräumt worden war, protestierten die nun Obdachlosen mit einer Mahnwache vor dem Roten Rathaus dagegen. „Man weiß nicht, wo man anfangen soll“, sagte gestern Ordensschwester „Maria“, die eigentlich Monika A. heißt und sich wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, einem nicht angemeldeten Aufzug und Beleidigung vor Gericht verantworten muß. „Ich weiß nur noch, daß wir ein Glockenspiel aufgebaut haben“, erinnerte sich die 39jährige mit dem blauen Kopftuch, die dem Orden „Geschwister vom Rande“ angehört. „Es war kein Zelt“, betonte sie. Doch die Polizei sah in dem Gerüst aus Holzstämmen eindeutig ein Zelt und erteilte flugs die Auflage, daß derlei nicht errichtet werden dürfe. Da die Beamten keinerlei „Erkennungsbereitschaft“ gezeigt hätten, so „Bruder Kamillo“, der wegen versuchter Gefangenenbefreiung und Fahren ohne Führerschein angeklagt ist, sollte der Bezirksbürgermeister von Mitte, Gerhard Keil (CDU), entscheiden. Unter polizeilicher Begleitung trugen etwa dreißig ehemalige Wagenburgler das strittige Objekt zu dessen Wohnhaus. „Bürgermeister, du feige Sau, komm runter und stell Dich!“, rief die fromme „Schwester Maria“. Die Polizei hatte mittlerweile eine Kette vor dem Haus gebildet. Nach Angaben von „Bruder Kamillo“ seien die Beamten „keil(!)förmig“ in die Wagenburgler „reingeschossen“. Als „Schwester Maria“ festgenommen wurde, habe er sich an Polizeiwerbung erinnert, die zum Einmischen statt Wegsehen auffordert. Ein Gedankenblitz, der ihm zusammen mit dem dritten Angeklagten, dem 23jährigen Andreas N., eine Anklage wegen versuchter Gefangenenbefreiung einbrachte. Andreas N. soll außerdem wild um sich getreten und einem Polizisten einen Finger gebrochen haben.

Zu der Beleidigung des Bezirksbürgermeisters steht „Schwester Maria“. Doch den Vorwurf der Anklage, sie sei die „Leiterin“ der Mahnwache gewesen, wies sie entschieden zurück. „Wir haben keine Rangabzeichen oder ähnliches“, belehrte „Bruder Kamillo“ den Staatsanwalt über die Wagenburgler-Hierarchie. In einer Selbstanzeige bekannten sich über vierzig Personen dazu, daß sie „gemeinschaftlich zu der Durchführung der Mahnwache standen und stehen“.

Nachdem bei der gestrigen Zeugenvernehmung ein Polizeibeamter von einem „Zelt mit Glocke“ sprach, die Beamtin, die die Anzeige gegen die Ordensschwester geschrieben hatte, das strittige Objekt gar nicht gesehen hatte und der Einsatzleiter, auf dessen Schilderungen ihre Anzeige beruhte, nicht mal als Zeuge geladen war, wurde die Verhandlung zum Zwecke „weiterer Nachermittlungen“ ausgesetzt. Halleluja.