: Suppenwürfel-Ring ohne Beigeschmack
■ Mit nichts als der Musik Richard Wagners gestaltete das Philharmonische Staatsorchester Bremen im Konzerthaus Glocke ein abwechslungsreiches Konzert
Für Hegel kulminierte das unerbittliche Kreisen des Weltgeistes in der dialektischen Dauerschleife zwischen These und Antithese im preußischen Staat. Bei Wagner dagegen steht am Ende des jahrtau-sendelangen Brütens nichts als Wagner. Allenfalls der letzte Satz von Beethovens Neunter hat das Endziel der Weltentwicklung vorweggenommen. Denn dort, so Wagner, ist das Verhältnis zwischen Musik und Sprache, also Gefühl und Verstand, zum ersten Mal geschwisterlich. Weder ist die Musik eine stupide Verdoppelung des Textes, noch der Text ein beliebiger Vorwand für musikalischen Genuss. Der Riss durch die menschliche Natur ist gekittet. Endlich.
Doch ach weh. In seinem aktuellen Konzert amputiert das Philharmonische Staatsorchester Bremen brutal das Wort von der Musik – und gelangt doch zu einer neuen Art Gesamtkunstwerk von faszinierender Schönheit. In der zweiten Halbzeit nämlich gab es den „Ring“ in Suppenwürfelkonzentrat auf ein winziges Stündchen eingedampft, und zwar nicht nur konzertant, sondern auch ganz ohne Gesang. Absolute Musik ist das natürlich trotzdem nicht. Denn vor dem geistigen Auge mischen sich Splitter der Erinnerung, vielleicht von TV-Aufzeichnungen von Harry Kupfers fossiler Schmiede oder von Patrice Chereaus kapitalismuskritischem „Ring“, bei der einen oder dem anderen glücklichen ZuhörerIn vielleicht auch vom letzten Bayreuth-Großerlebnis. Und wenn das Orchester unter Leitung von Ulf Schirmer ihrer größten Qualität fröhnt und von einem Erlebnisraum urplötzlich in einen ganz arg anderen vorstößt, dann sieht man Wände fallen, Türen öffnen, Scheinwerfer an- und abschalten.
Diese Ringbearbeitung, die Dirigent Lorin Maazel 1988 zusammenbastelte, hat natürlich den Ruch eines einplättenden Best-of-Medleys. In Windeseile surft man auf den Rheinwogen zum Walkürenritt, um flugs zu Siegmunds Inzest zu galoppieren und so weiter. Und weil das Orchester sich keiner Gesangsstimme mehr unterwerfen muss, tost es nach Leibeskräften. Wie ein Hochleistungsbergsteiger wird das Publikum von einem Gipfel zum nächsten gejagt. Ausgepowert wie ein Hürdenläufer nach dem letzten Sprung hat es um 22.30 Uhr dann keine Lust mehr auf eine Zugabe.
Obwohl laut Maazels Bastelanleitung „jede einzelne Note original“ aus Wagners Partitur gepflückt wurde, ist das Timing diametral entgegengesetzt dazu. Doch nur allzu gerne gibt man sich der reizvollen Zumutung hin. Zumal in der ersten Halbzeit mit dem Siegfried-Idyll das Ruhebedürfnis in wunderbarer Weise befriedigt wurde. Als wäre ein grenzenauflösender Joint durch die Reihen der Streicher gewandert, schummelt man sich sanft von einem Ton in den nächsten hinein. Dafür müsste glatt eine Steigerungsform von „Legatissimo“ erfunden werden. Hier arbeitet Schirmer im Gegensatz zum Ring mit kalkulierter Zurückhaltung. Wo die musikalische Textur längst bauscht, wallt, zehrt und sehnt, besinnt sich das Orchester auf den Buddhisten Wagner und bewahrt himmlische Gelassenheit.
Rammbock zwischen den Polen „Ring“ und „Idyll“ waren die Wesendonklieder. Trotz gewöhnungsbedürftiger Eindunklung der Vokale und entsprechenden Defiziten in Sachen Strahlkraft ist es beeindruckend, wie Mezzosopranistin Lioba Braun bisweilen auf einem einzigen Atem unterschiedlichste Seelengefilde streift. Den ewigen Fluch der perfekten Tonträger-Vorlagen, zum Beispiel der einer Elisabeth Schwarzkopf, kann sie allerdings nicht bannen. Ein Konzert, das vorbildhaft demonstriert, wie man mit dem Werk eines einzigen Komponisten eine Geschichte komponieren kann. bk
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