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Der Schnurrbart Gottes

Tanzbär, Pate, Volkstribun: Der kurdisch-türkische Arabeskstar Ibrahim Tatlises, genannt Ibo, ist der anhängerstärkste Prophet des anatolischen Souls. Mit bedachter Symbolik balanciert er auf dem schmalen Grat zwischen Minderheitenstolz und Mainstreamappeal. In Berlin zog er dabei alle Register

Integrationsfigur und Bilderbuchmacho: „Ibo“ ist der James Brown des Orients

von DANIEL BAX

Harald Schmidt ist nicht auf den Mund gefallen, bekanntlich. Doch dieser Gast verschlug ihm sichtlich die Sprache. Ziemlich genau zwei Jahre ist es her, dass der Late-Night-Zyniker den türkischen Allroundstar Ibrahim Tatlises, genannt Ibo, in seine Sendung lud und damit, vielleicht unbeabsichtigt, Fernsehgeschichte schrieb. Denn Ibo kam, sah und sang. Es regnete rosa Luftballons, das durchwegs junge und türkische Publikum im Saal grinste wissend um die Ironie, lauschte dem seltsamen Schnurrbart aus der Türkei aber doch deutlich ergriffen, und brachte ihm stehende Ovationen dar. Es war, für einen kleinen Moment nur, als seien die Grenzen zwischen deutscher und türkischer TV-Kultur gefallen.

Seitdem war Ibo nicht mehr in Deutschland gewesen, und im Vorfeld seiner aktuellen Tournee muss es unter den Veranstaltern ein ziemliches Gezerre gegeben haben, den begehrten Sänger auf die deutschen Bühnen zu holen. Lange war nur klar, dass er kommt. Wohin, wann und mit wem, blieb aber offen. Bis irgendwann in ganz Kreuzberg Plakate mit seinem Konterfei klebten und der Ankündigung: Freilichtbühne Weißensee, im Ostteil der Stadt.

Dort am Eingang standen gleich mehrere dutzend Polizisten Spalier, um Schutz zu bieten – nur leider nicht vor dem Regen, der das Halbrund der Arena allmählich unter Wasser zu setzen drohte. Unter Regenschirmen und rotweißen Schirmmützen mit „Ibo“-Aufdruck, die vor Ort verkauft wurden, verkroch sich das Publikum, bis der lang Erwartete auf die Bühne trat. Und der, ganz Volkstribun, schritt sofort unter der Überdachung hervor, wo das Orchester Platz genommen hatte, und stellte sich mit ausgebreiteten Armen in den Regen. Die Botschaft, ganz klar: Ich bin einer von euch, ich fühle wie ihr. Erst später nimmt er den Schirm, den ihm ein Helfer reichte, zur Hand.

Auch wegen solcher Gesten ist Ibrahim Tatlises in der Türkei ein Star, über alle Altersgrenzen, sozialen Schichten und ethnischen Differenzen hinweg. Und wegen seiner Stimme natürlich, die auch mit orientalischer Gefühlskultur ganz Unvertrauten manchen Schauer über den Rücken zu jagen vermag. „Arabesk“ wird der anatolische Soul in der Türkei genannt, dessen anhängerstärkster Prophet Ibrahim Tatlises ist. Längst hat sich das Goldkehlchen, das einst aus dem äußersten Osten der Türkei, aus Urfa, in die große Stadt fand, zum mit allen Wassern gewaschenen Unternehmer gewandelt, den ein beachtliches Talent zur Selbstvermarktung auszeichnet. Durch Kassetten und Spielfilme zu Ruhm gelangt, investierte er sein Vermögen in Immobilien und eine Fastfood-Kette, für die er auf der Bühne in Berlin hemmungslos Werbung machte – ausgerechnet auf Kosten der Sponsoren seines Konzerts, die selbst ihr Geld mit Lahmacuns, der türkischen Pizza, verdienen.

Mag Ibrahim Tatlises in solchen Momenten auch einen herablassenden Humor an den Tag legen, so weiß er doch immer sich als Mann des Volkes zu inszenieren. Schon nach zehn Minuten fliegt sein Jackett im hohen Bogen in die Ecke, und hochgekrempelt werden die Ärmel des knallgrünen Hemds, das sich über dem Bauch schon merklich strafft. Ibrahim Tatlises zieht alle Register des Populismus, gibt mal den Charmeur, der seinem Publikum schmeichelt, weil es so schön mitsingt und dem Regen trotzt, und dann wieder den Chef, der sein Orchester mit feudaler Hand dirigiert. Er scherzt wie ein freundlicher Pate mit der Mädchengruppe, die in Goldlamé-Kostümen zur Bauchtanzeinlage antritt. Und er hüpft wie ein Tanzbär zu den regionalen Rhythmen des Ostens, die seinen Stücken ihren perkussiven Drive geben.

Wenn dies eine gerechte Welt wäre und die Musiken von Orient und Okzident mit gleichem Maß gemessen würden, dann müsste man den türkischen Sänger und Entertainer in einer Linie mit James „This is a man’s world“ Brown oder Marvin Gaye nennen. Wie diese beiden, ist auch Ibrahim Tatlises ein Bilderbuchmacho und sein Hang zu Handgreiflichkeiten notorisch. Und wie James Brown, der in den 70ern das emanzipatorische „Black and Proud“-Ideal verkörperte, um später in „Rocky“-Filmen Loblieder aufs „Living in America“ zu singen, balanciert auch Ibo souverän auf dem schmalen Grat zwischen Minderheitenstolz und Anbiederung. Eine gewisse Bauernschläue zeichnet ihn dabei aus. Nur so erklärt es sich, dass „Ibo“ sich seine große Beliebtheit bei Kurden erhalten konnte, die es schätzen, dass er seinen starken ostanatolischen Akzent als Markenzeichen kultiviert hat. Und das, obwohl Tatlises nichts dabei findet, auch mal bei rechten Hardlinern wie Mehmet Agar, dem ehemaligen türkischen Innenminister und Geheimdienstchef, der wegen Verstrickungen mit Mafia und Kontraguerilla vom Amt zurücktreten musste, als Stargast zur Hochzeit von dessen Sohn aufzutreten.

In Berlin gab sich Ibo dagegen betont basisnah und mit Sinn für wohl dosierte Symbolik. Mehrmals sang er auf Kurdisch, um am Ende mit „Leylim Ley“ zu schließen, einer sozialdemokratischen Hymne des Liedermachers Zülfü Livaneli. Und wie ein Kronzeuge in einem Mafiaprozess von einem Dutzend Leibwächter flankiert, verließ er nach einer bemerkenswerten Show die Bühne, umjubelt.

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