: Klar getanzter Nachhilfeunterricht
Taktversetzt und einander abgewandt: Beim „Tanz im August“ kehrte der Weltklassetänzer Mikhail Baryshnikow mit seinem White Oak Dance Project im Haus der Berliner Festspiele zu bloßen, abstrakten Bewegungsformen zurück
Mikhail Baryshnikow formulierte sein Anliegen griffig: In die Vergangenheit wolle man gehen, und von dort in die Zukunft blicken. Der russisch-amerikanische Weltklassetänzer präsentierte diesen durchaus didaktisch gemeinten Akt der Zeitvermessung in künstlerisch beeindruckender Form: Als lebendig, klar und faszinierend getanzten Nachhilfeunterricht in moderner „Tanzgeschichte“. Baryshnikow und sein White Oak Dance Project, eine Gruppe von sieben jungen hervorragenden Tänzern aus den USA, zeigten ihre neueste Produktion „PastForward – the influence of the post-moderns“ am Dienstagabend beim „Tanz im August“ in europäischer Erstaufführung.
Vor einem erwartungsvollen Publikum im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele, das vor allem Baryshnikow, den virtuosen Solisten, sehen wollte, nahm sich der Star zu Gunsten der Gruppe und des Auftrags zurück. Nun muss sich der Sechzigjährige, der die Fitness eines jungen Mannes verstahlt, nicht mehr beweisen. 1940 im lettischen Riga geboren, wurde er 1966 in das Leningrader Kirow-Ballett, die bedeutendste klassische Ballettgruppe Europas, aufgenommen. Die Pawlowa war von dort gekommen, und Nijinski, ebenso der Choreograf George Balanchine, der 1934 in die USA ging und dort das New York City Ballet, die erste klassische amerikanische Kompanie, gründete.
Baryshnikow, Star-Solist des Kirow-Balletts, dem man die Rolle des Hamlet förmlich auf den Leib schrieb, folgte seinem Landsmann vierzig Jahre später, als er sich bei einem Gastspiel 1974 in Kanada absetzte und am American Ballet Theatre und beim New York City Ballet tanzte. Baryshnikow Productions 2000 reflektieren mit „PastForward“ die künstlerische Entwicklung des amerikanischen „Post-Modernism“, weg vom starren kodifizierten Ballett, in Richtung einer „freieren“ Form des Tanzes, die Wahrnehmungsmuster, Funktionen und die Möglichkeiten des Körpers neu befragt.
Mit einer multimedialen Show, die Archivaufnahmen per Video zeigt, geht das White Oak Dance Project zu den Anfängen des „postmodernen“ Tanzes zurück. Es zeigt Stücke der „Judson-Artists“, jener Avantgarde-Choreografen, die 1962 in der New Yorker Judson Memorial Church mit ihren ungewöhnlichen Performances begannen: Stücke von Trisha Brown, Lucinda Childs, Simone Forti, David Gordon, Deborah Hay, Steve Braxton und Yvonne Rainer, die die Zuschauer nicht mehr unterhalten wollten, im konventionellen Sinn, und auf Dekor, Kostüme, Schminke verzichteten, um den bloßen Körper als wesentliches „Instrument“ ihrer nach neuen Formen suchenden Kunst einzusetzen. White Oak bedient sich des einst radikalen Vokabulars.
Man sieht abstrakte Bewegungsmuster, die weder erzählt noch interpretiert sein wollen, sich somit der Fixierung innerhalb des linearen Zeitverlaufs entziehen und im Augenblick ihrer Darstellung auf der Bühne eine schwer zu fassende Schönheit ausstrahlen. So etwa in den Arbeiten von Yvonne Rainer, „Talking Solo“ (1963) und „Trio A Pressured“ (1966), in dem Emmanuèlle Phuon und Rosalynde LeBlanc taktversetzt und einander abgewandt dieselben Bewegungen vollführen, in einigen Momenten simultan tanzen, um sich dann wieder zu differenzieren. Anders Steve Paxton, er zeigt in „Satisfyin’ Lover“ (1967) mehrere Dutzend Nicht-Tänzer, die sich wie beim Gänsemarsch mit unendlich langsamen Schritten in einer Linie über die Bühne bewegen. Dazu sieht man auf einer Videoleinwand die Gesichter der Passanten. Jemand buht. Vielleicht wollte er Pirouetten sehen.
JANA SITTNICK
White Oak Dance Project, heute, 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen