: Ullrich ist gemeinsam stark
Der ehemalige Tour-de-France-Sieger muss am Ende der Saison erneut nachholen, was er das ganze Jahr über verpasst hat. Dabei sollen ihm seine Telekom-Kollegen helfen – als Nationalteam
von SEBASTIAN MOLL
Lance Armstrong hat aus schlechten Erfahrungen gelernt. Sein Start bei den Olympischen Spielen zum Ende der vergangenen Saison brachte ihm außer Häme wenig ein. Die entscheidende Attacke von Jan Ullrich, sekundiert von seinen Mannschaftskollegen Andreas Klöden und dem Kasachen Alexander Vinokourov, verpasste der Tour-de-France-Sieger im Trikot mit den Sternen und Streifen. Und im Einzelzeitfahren musste er sich nicht nur Ullrich, sondern auch noch seinem Mannschaftskameraden bei US Postal, dem Russen Vjatcheslav Ekimov, geschlagen geben. Da bleibt er in diesem Jahr doch lieber gleich zu Hause in seinem Haus in Spanien und schaut sich das WM-Straßenrennen von Lissabon am Sonntag und das Einzelzeitfahren am morgigen Donnerstag im Fernsehen an.
Jan Ullrich hingegen möchte alles daran setzen, im letzten großen Rennen der Saison alles nachzuholen, was er im Lauf des Jahres verpasst hat. Ein deutscher Meistertitel war bis zur vergangenen Woche sein einziger Erfolg, ansonsten hatte es – von der Tour de France bis zum Züricher Weltcup – zweite Plätze nur so gehagelt. Bei der Emilia- und der Lucca-Rundfahrt in Italien ist er jetzt, kurz vor der WM, international erstmals als Erster über den Zielstrich geradelt. Die Konkurrenz zeigte sich beeindruckt. Der Italiener Davide Rebbellin, einer der härtesten Gegner des Deutschen um den WM-Sieg, wähnte den Merdinger „in einer Superform“.
Wenn Ullrich Siegambitionen bei einer WM anmeldet, wird ihm vom Bund Deutscher Radfahrer (BDR) selbstredend dazu auch eine Mannschaft zusammengestellt. Hauptnominierungskriterium für das Lissaboner Straßenrennen war deshalb, ob ein Fahrer Ullrich nützlich ist oder nicht. Da kommt es gelegen, dass der für die Mannschaftszusammenstellung zuständige BDR-Vizepräsident als Pressesprecher zugleich beim Team Telekom angestellt ist. Gleich neun Telekom-Pedaleure hat Olaf Ludwig in die Liste der Vorauswahl für Lissabon eingetragen, Grund für viele, die Personalunion von Teamsprecher und Verbandsfunktionär einmal mehr zu kritisieren. Thomas Liese vom Team Nürnberger etwa war deshalb gar auf die Bahn-Weltmeisterschaft in Antwerpen ausgewichen: „Da sind die Nominierungskriterien wenigstens reell“, begründete er diesen Schritt.
„Ein Weltmeistertitel auf der Straße fehlt mir noch in meiner Sammlung“, gibt derweil Jan Ullrich bekannt, warum er sich zum Saisonende noch einmal so ins Zeug legt, während Tour-de-France-Rivale Armstrong schon lange die Füße hochlegen kann. Laut Expertenmeinung stehen Ullrichs Chancen ganz gut, neben seine schon etwas abgehangenen gelben Leibchen von der Tour ’97 das Regenbogentrikot des Weltmeisters über den Kleiderbügel drapieren zu dürfen. „Der Kurs ist so selektiv“, glaubt Olaf Ludwig, „dass es keinen Außenseitersieg geben wird.“
In den vergangenen beiden Jahren hatten mit dem Litauer Romans Vainsteins und dem Spanier Oscar Freire Gomez jeweils unbekannte Fahrer das WM-Rennen gewonnen. Jeweils im Sprint konnten sie die Favoriten überrumpeln, weil diese damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu belauern. Eine solche Situation werde es wohl in diesem Jahr nicht wieder geben, meint Ludwig. Die recht bergige Strecke komme Ullrich entgegen, hat der deutsche Allrounder dort doch alle Möglichkeiten, frühzeitig eine Entscheidung herbeizuführen.
Dass die deutsche Mannschaft vorwiegend aus Telekom-Fahrern besteht, dürfte dabei für Ullrich von großem Vorteil sein. Das ganze Jahr über sind diese Jungs darauf eingeschworen, für ihren Chef zu arbeiten, und sie werden auch bei der WM nicht über diese Hierarchie klagen. Bei anderen Nationalteams ist das häufig schwieriger. Inbesondere Nationaltrainer so großer Radsportnationen wie Belgien und Italien stehen häufig vor dem Problem, eine Truppe aus lauter Stars auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören.
Zu einem Disput über die Kapitänsrolle könnte es in diesem Jahr erstmals auch bei den deutschen Frauen im Straßenrennen am Samstag kommen. Nach der Trennung von ihrem Ehemann und Trainer Thorsten Wittig ist die Olympiazweite Hanka Kupfernagel weit von ihrer Spitzenform entfernt und konnte im Verlauf der Saison noch keine nennenswerten Erfolge erzielen. Dafür waren andere deutsche Fahrerinnen umso erfolgreicher. Allen voran Judith Arndt aus Frankfurt/Oder, die nach etlichen Weltcupsiegen Dritte bei der Tour de France wurde und derzeit an Rang vier der Weltrangliste steht. Bundestrainer Jochen Dornbusch ist über diese Situation jedoch alles andere als beunruhigt: „Es ist sehr angenehm, nicht alles auf eine Karte setzen zu müssen.“ Sorgen, dass sich eine Fahrerin der Stallorder widersetzt, muss er sich nicht machen, schließlich treten die Damen das ganze Jahr über bei internationalen Rennen als Nationalmannschaft auf und sind aufeinander eingespielt. Wie das Team Telekom. Nur dass dieses nicht als Nationalmannschaft gilt. Zumindest nicht offiziell.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen