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Engel müssen sie gar nicht sein

betr.: „Merkel: Deutsche reif für Kanzlerin“, taz vom 29. 12. 01

Puttchen hat es gemerkelt: Wir sind reif für eine Kanzlerin! Wenngleich, ich hatte inzwischen eher den Eindruck, jenes Denken sei bereits in die Konkursmasse unseres gesellschaftlichen Verfalls geraten – spätestens seit laut Urteil des Europäischen Gerichtshofes auch Frauen in den Krieg ziehen dürfen. Wir – seinerzeit – wollten gleiche Rechte, aber wir wollten nicht für bis dahin männliche Dummheiten zur Verfügung stehen wie zum Beispiel Krieg. Die Frauenministerin – heute – kommentierte jenes Urteil als arbeitsmarktpolitische Chance. Was also bedeutet in solchen Zeiten eine Kanzlerin?

Ich habe den Eindruck, dass große Teile der Gesellschaft inzwischen viel reifer, weiser, kreativer, ja bewusster sind als das politische Wesen alten Typs. Überall zweifeln Menschen daran, dass noch alles gut wird, wenn wir nur unbeirrt so weitermachen, weiter so konsumieren, wenn nur der Einzelne im Interesse der Produktion weiter dankbar ist für jeden Arbeitsplatz, den die Industriegesellschaft ihm anbietet, sei das Produkt noch so schädlich für die Welt und für die Gemeinwesen von morgen. Eigentlich wissen wir alle: Die Erde ist unser einziger Ort im Universum!

[. . .] Die großen gesellschaftlichen Veränderungen haben immer trotz der jeweiligen Machtstrukturen stattgefunden. Das geht auch friedlich. Wir haben all das nötige Wissen. Wir haben alle Mittel. Das Ziel ist nicht der gefürchtete Verzicht. Es geht darum, dass wir uns die wirklichen Quellen wirklichen Genusses erhalten, ja dass wir sie überhaupt wieder sehen! Wenn wir dann alle darüber nachdenken, was das für unsere Erde und für die Zukunft der Kinder bedeutet, dann brauchen wir nur noch neue PolitikerInnen, die sich nicht durch ihre Sehnsucht auszeichnen, KanzlerInnen zu werden, sondern durch ihre Sehnsucht, wirkliche Menschen zu werden. Engel müssen sie gar nicht sein.

MARLIES JENSEN, Mönkeberg

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