: Der Himmelarsch-Beweis
Wenn prä- und postpubertäre Straßenrowdys mit Kant und Hegel im Teufelskreis tanzen
Ich war mit Kant und den Aporien transzendentaler Subjektivität beschäftigt. Es zog sich hin, es ging ein wenig zäh. Dann ging es los. Draußen versammelte sich der präpubertäre Teil der Sippschaft aus dem Nachbarhaus. Stücker fünf Bälger bezogen Stellung auf dem Gehsteig gegenüber. Sehen konnte ich sie nicht, ich wohne im dritten Stock, aber hören.
Der Lütte begann, und er hörte nicht mehr auf. Der Lütte pest normalerweise mit einem Ball die Straße rauf und runter, und wenn ihm der Ball entgleitet und auf die Fahrbahn rollt, rennt er auf die Straße, egal, was da kommt. Kollege Suppa aus der Nachbarstraße hat dem Lütten mal das Leben gerettet, indem er ihn im letzten Moment, bevor er vors heranrasende Auto gewieselt wäre, am Schlafittchen erwischte. Zum Dank zeigte der Lütte dem guten Herrn Suppa den Effe-Finger.
Der Lütte darf fast alles. Er darf zum Beispiel auf der Motorhaube meines Autos herumspringen, und wenn ich neben der geöffneten Fahrertür stehe und ihn nach fünf Minuten frage, ob er jetzt mal aufhören könne und ich losfahren dürfe, dann darf er mir ins Gesicht sagen: „Nein, Arschloch.“
Aber das darf er nicht. Er darf nicht, wenn ich in Kant verhakt bin, anfangen zu schreien. Er darf nicht ohne jeden Grund herumbrüllen. Eine Stunde. Zwei Stunden. Nervenzehrend, ausdauernd, unerbittlich kreischen und plärren. Drei Stunden lang und eine vierte Stunde auch noch. Oder doch?
Nein, das stört dich nicht. Nein, du hörst nichts. Nein, das ist klar, dass der Satz so nicht funktioniert. Nein, sie könnten doch auch mal eine Ecke weiterziehen. Nein, so nicht. So haut der Satz doch nie hin. Nein, du musst ja nicht hinhören. Nein, die Aporie der transzendentalen Begründung von wissenschaftlicher Praxis als zeichen- und kommunikationsunabhängiger Erkenntnis ist so nicht zu lösen. Nein, du musst jetzt ein Zeichen setzen.
Ich sprang auf, riss das Fenster auf und schrie hinunter: „Schnauuuuze halten!“ Das erste Mal in meinem Leben. Ich schwör’s. Die fünf, der Lütte und seine Geschwister, schauten zu mir hoch und schwiegen. Für fünf Minuten.
Am nächsten Tag versuchte ich es mit Hegel, mit den Jenenser Frühschriften. Vom Konzept des „Kampfes um Anerkennung“, das – anstelle der bloßen moralischen Sollensbestimmung bei Kant – die Idee der Verwirklichung von Sittlichkeit durch die sich gegenseitig als freie und bedürftige Individuen anerkennenden Subjekte postuliert, versprach ich mir die Überwindung des kantischen Dilemmas.
Es lief ganz gut, ich war nah dran, nah an der absatzabschließenden Synthese. Dann ging es los. Auf dem Gehsteig gegenüber versammelte sich der postpubertäre, männliche Teil der Sippschaft aus dem Nachbarhaus, zuzüglich einiger Bekanntschaften. Sie begannen, über die Straße hinweg dem weiblichen postpubertären Teil der Sippschaft in einer mir unverständlichen Sprache so etwas wie Befehle, allgemeine Meinungen oder irgendwelche Botschaften mitzuteilen. Nein: zuzurufen. Sie herüberzubrüllen, aus gebührendem Abstand zum Fenster, wo sich die Frauen aufhielten, um das Gerufene oder, besser, Gebrüllte auf sich wirken zu lassen.
Ja, es zeigte Wirkung. Nach drei Stunden stand ich auf, öffnete das Fenster und schaute mir die Herrschaften an. Sie brüllten und riefen, riefen und brüllten, ohne dass ihnen die Hüte von den Köpfen flogen. Der Sturm war ja leider schon vor Tagen wieder abgezogen, und Gott wollte auch keinen Wolkenbruch senden, der die Herrchen zu ihren Frauen getrieben hätte.
Ich, der ich gern eine fensterlose Monade gewesen wäre, schloss das Fenster wieder und setzte mich hin. Ich versuchte weiter zu monadisieren, und nach einer halben Stunde orkanartigen Getöses auf der Straße riss mir der Hirnfaden. Ich schrie: „Himmelarsch!“, sprang auf, die Kaffeetasse fiel um, und ein kalter Schwall ertränkte meinen Hegel samt Notizen.
Es klärt dich kein Kant und kein Hegel über das Gegenteil auf: Als so genannter Denkender bist du genau der stillebedürftige, kleinbürgerliche, latent aggressive Esel, als den der gegenüber dem Denkenden latent aggressive Kleinbürger den Philosophen diffamiert. Wenn das kein handfester Circulus vitiosus im Bios theoretikos ist. Wenigstens diesen Beweis habe ich geführt. Ich tupfte meinen Hegel trocken. JÜRGEN ROTH
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